57 Tage für ein Stück Papier

Tausende Flüchtlinge müssen in Berlin wochenlang auf die Registrierung warten. Sie ertragen katastrophale Zustände und schlafen oft nächtelang unter freiem Himmel.

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09. Okt. 2015 –

Der alte Mann da mit seiner Frau hat gestern im Freien geschlafen. Hier vor der Tür“, erzählt Attiq-Ur-Rehman vor einer Notunterkunft für Flüchtlinge in der Kruppstraße in Berlin. Dabei deutet er auf einen gebrechlichen alten Mann um die 70, der langsam auf den Raucherbereich der Notunterkunft zugeht und sich eine Zigarette ansteckt. „Die haben ihn nicht reingelassen“, fügt er hinzu, „weil er keine Papiere hat“. Sein offenes Gesicht mit dem freundlichen Lächeln verwandelt sich bei diesen Worten in eine starre Maske. Man merkt ihm an, dass er weiß, was es heißt, nächtelang unter freiem Himmel zu schlafen.

Attiq ist 20 und kommt aus Pakistan. Mit ruhiger und leiser Stimme erzählt er in fast akzentfreiem Englisch von seinen ersten Eindrücken von Deutschland. „Deutschland ist ein tolles Land. Die Menschen sind sehr freundlich und hilfsbereit.“ Nur eine Sache stört ihn. Seine Stimme wird lauter, wenn er davon spricht, seine Züge wirken verkniffen. Drei Wochen ist er nun hier, fast zwei Wochen hat er darauf gewartet, sich beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) als Flüchtling zu registrieren. „ LAGeSo ist ein großes Problem“ sagt er.

Vor dem LAGeSo in Moabit hat sich wieder eine große Menschenmenge gebildet. Seit Wochen harren hier täglich hunderte Flüchtlinge aus und hoffen, endlich an der Reihe zu sein. „Die Leute warten hier ein oder zwei Wochen“, berichtet eine Freiwillige von der Initiative „Moabit Hilft“. Teilweise sogar noch deutlich länger. 57 Tage beträgt bisher die längste bestätigte Wartezeit vom Anstellen in der Schlange bis zur Ausgabe der ersten Unterlagen.

Die Situation wird von Medien und freiwilligen Helfern seit Wochen scharf kritisiert. Am deutlichsten äußert sich bisher „Moabit Hilft“. Sie prangert die unzumutbaren Zustände an und fordert die Politik auf, sich an das Asylbewerberleistungsgesetz zu halten. „Es reicht!“, stellt der Verein fest.

Moabit Hilft“ fühlt sich bei der Aufgabe, die wartenden Flüchtlinge mit dem Notwendigsten zu versorgen, alleine gelassen. „Nicht eine Decke, nicht ein Regenponcho, nicht eine Windel“ werde vom Senat gestellt. Es gebe weder „personelle Unterstützung durch LAGeSo und Senat“, noch sei eine medizinische Versorgung der Menschen vor Ort gewährleistet, so der Verein.

Das führt zu den katastrophalen Umständen am und rund um das LAGeSo. Familien mit kleinen Kindern und Säuglingen liegen auf dem kalten Beton. Sie schlafen jede Nacht in den umliegenden Parks, um morgens wieder vorne in der Schlange zu stehen. Trinkwasser gibt es nur aus einem Hahn, saubere Plastikbecher schon lange nicht mehr. Viele Menschen sind krank und verstört von der langen Flucht. Endlich in Deutschland angekommen, wollen sie nichts weiter, als ein Dach über dem Kopf, ein Bett und etwas zu essen.

Die Politik tut derweil sehr wenig, um die dramatische Lage in den Griff zu kriegen. Die Situation ist beispielhaft für die gesamte Flüchtlingspolitik Deutschlands. Auf große Worte folgen k(l)eine Taten. Seit Merkel verkündete: „Wir schaffen das“, hat sich wenig getan. Obwohl deutlich mehr Flüchtlinge ankommen als sonst, läuft das alte System weiter, als wäre nichts passiert. Zwar organisiert die öffentliche Krankenhausfirma Vivantes seit Dienstag die Essensausgabe an die Wartenden. Insgesamt jedoch wird nichts unternommen, um die Wartezeiten zu verkürzen. Keine zusätzlichen Angestellten, um die Flut von Registrierungen in den Griff zu bekommen. Keine Helfer, die Essen ausgeben, medizinische Notversorgung leisten und die Menschen mit dem Nötigsten versorgen. "Wir haben das Gefühl, es muss erst jemand sterben, damit etwas passiert", kommentiert eine der freiwilligen Helferinnen.

Das Wetter hat sich an diesem Tag der Jahreszeit angepasst. Es ist herbstlich kühl und windig. Der Himmel ist bedeckt von einer geschlossenen, grauen Wolkendecke aus der hin und wieder ein Regenschauer über die Flüchtlinge niedergeht. Die warmen, sonnigen Tage sind vorerst vorbei. Kräftige Windböen fegen über den Platz und wirbeln große Staubwolken auf, die durch die Menschenmassen ziehen. Viele der Flüchtlinge tragen bereits Winterjacken, um sich gegen die Kälte zu schützen. Vor dem Hauptgebäude des LAGeSo wurde eine Tafel angebracht, die Wartenummern anzeigt. Das verleiht dem Platz die ungemütliche Stimmung eines überfüllten Warteraums beim Bürgeramt. Nur eben draußen. Unter freiem Himmel bei zehn Grad und Regen, ohne Gewissheit, ob sich das Warten am Ende lohnt.

Erstaunlich ruhig geht es dabei auf dem Platz zu. Die Flüchtlinge wirken zwar angespannt und rastlos, doch es scheint, als wollen sie die aufgeheizte Stimmung nicht weiter eskalieren lassen. Vielleicht sind sie auch einfach nur müde und erschöpft. Vielleicht fürchten sie aber auch die Sicherheitskräfte, die sie von ihrem Platz in der Schlange verweisen könnten. „Die wissen, dass das hier Deutschland ist, ein Rechtsstaat“, kommentiert ein mürrischer Wachmann. „Wenn die was anstellen, sind die ganz schnell weg. In U-Haft“, erzählt er mit überlegenem Grinsen. In den vergangenen Tagen hat es immer wieder Berichte über Übergriffe und Misshandlungen der Flüchtlinge durch die Sicherheitskräfte gegeben. Auch sollen die begehrten Wartenummer, die den Weg ins Innere des LAGeSo öffnen, von Angestellten des Sicherheitsdienstes und Dolmetschern an die Flüchtlinge verkauft worden sein. Bis zu hundert Euro haben sie angeblich für eine Nummer verlangt.

Eine neue Nummer wird aufgerufen. Zwei junge Männer stehen auf und gehen auf einen der durch Sicherheitskräfte gesicherten Eingänge zu. Sie sind sichtlich erleichtert, endlich an der Reihe zu sein, grinsen sich an und präsentieren den Wachleuten ihren Papierschnipsel mit der vierstelligen Nummer. Einem der beiden fliegt der Zettel aus der Hand. Eine Windböe hat das Papier erfasst, und weht es den Weg entlang auf den herumstehenden Polizeibus zu. Der Junge läuft hinterher, versucht den Schnipsel aufzuhalten, mit dem Schuh zu fangen, und bekommt ihn schließlich zu fassen. Die Sicherheitsleute lachen. Sie kennen den Wert der Wartenummern genau, wissen wie schwierig es ist sie überhaupt zu bekommen. Sichtlich beschämt über sein Missgeschick, aber glücklich, sein kleines Stück Papier wiederzuhaben, geht der junge Mann erneut zum Eingang und hinein ins LAGeSo.

Zurück in der Notunterkunft in der Kruppstraße ist die Stimmung entspannter. Die Flüchtlinge hier haben das Schlimmste schon hinter sich. Sie haben sich im LAGeSo registrieren lassen und sind hierher verwiesen worden. Wie geht es jetzt weiter für sie? Attiq und die anderen wissen es selbst nicht so richtig. Sie wissen nur, dass sie für einen Monat hier in der Kruppstraße bleiben werden. Hier geht es ihnen gut, sagen sie. Sie wirken sehr genügsam. Da die meisten noch vor wenigen Tagen unter freiem Himmel geschlafen haben, ist man froh, ein Dach über dem Kopf haben. „Das Essen ist gut und die Leute sind freundlich, sehr freundlich“, erzählt Attiq.

Was er hier in Deutschland machen will, studieren, arbeiten? Er würde schon sehr gerne studieren, sagt Attiq, wenn man ihn lasse. Nach Einschätzung von Berlins Ex-Wissenschaftssenator Jürgen Zöllner wird es dieses Jahr etwa 50.000 „studierwillige“ Asylbewerber wie Attiq geben. Vielen fehlt der Nachweis einer Hochschulreife. Wenn man in einer Nacht und Nebel Aktion aus seinem Land flieht, denkt nicht jeder daran, sein Zeugnis mitzunehmen. Deshalb haben in Berlin bereits mehrere Universitäten angekündigt, Flüchtlinge zum Wintersemester als Gasthörer zuzulassen. Aber auch der Zugang zu einem regulären Studium soll Asylbewerbern ermöglicht werden. Mehrere Ministerien empfehlen den Hochschulen, bei der Prüfung der Anträge von Flüchtlingen ein Auge zuzudrücken.

So könnte auch Attiq zu einem Studium zugelassen werden. Konkrete Pläne hat er noch nicht. Im Moment hat er andere Sorgen als seine akademische Ausbildung. Attiq muss erst einmal sehen, wie es nun für ihn weitergeht. Kann er in Berlin bleiben, oder wird er in ein anderes Bundesland geschickt? Für den Moment ist er glücklich, ein Dach über dem Kopf, Kleidung und warmes Essen zu haben. Ob er denn schon wisse, was er überhaupt studieren wolle? Noch nicht so wirklich, ist die Antwort. „Something good“, sagt er noch – etwas Gutes. 

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