Auf Kante genäht
KiK-Chef Zahn checkt seine Fabrik
16. Nov. 2022 –
Kaum angekommen, stürmt Patrick Zahn die Treppen hoch. Etwas außer Puste tritt er im achten Stockwerk auf das flache Betondach der Fabrik hinaus. 35 Grad, feuchte Luft, die Sonne scheint grell. Der Chef des deutschen Textildiscounters KiK stattet hier in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, einen Kontrollbesuch ab. „Jetzt den Schlauch anschließen“, verlangt ein mitgereister KiK-Manager.
„Feuerwehr“ und „Rettung“ steht auf den gelben Westen der beiden Arbeiter, die den grauen Schlauch ausrollen, die Düse aufsetzen, sich in Position stellen. Ein dritter öffnet das Ventil. Meter für Meter schwillt die Leitung an, bis ein armdicker Strahl bräunlichen Wassers über das Dach schießt. Zufriedenheit in den Gesichtern. Das hat geklappt.
Zahn, hellblaues Freizeithemd, hochgekrempelte Ärmel, Sportschuhe, lässt sich erklären, was die Eigentümer der Fabrik tun, um Brände zu vermeiden und zu bekämpfen. „Nun wollen wir einen elektrischen Schaltschrank sehen“, fordert sein Mitarbeiter. Die 20-köpfige Gruppe steigt das Treppenhaus wieder hinab.
Für sehr günstige Bekleidung ist KiK in Deutschland bekannt. Eine Herrenhose bekommt man in den Geschäften schon für 6,99 Euro, T-Shirts ab 3,99 €, Sportschuhe ab 9,99 €. Von diesem Billigimage ist nichts zu spüren, als die KiK-Delegation einige ihrer Lieferanten in Asien besucht. Im Gegenteil: Patrick Zahn tritt hier als anspruchsvoller Kunde auf, der Qualität einfordert. Er drängt darauf, dass die Fabriken, die die KiK-Textilien herstellen, Millionen Euro in die Sicherheit ihrer Beschäftigten investieren.
Zahn bearbeitet ein Trauma: Vor neun Jahren stürzte die Fabrik Rana Plaza in Dhaka ein. Mehr als 1.100 Tote. Vor zehn Jahren brannte Ali Enterprises in Karachi, Pakistan, ab. 259 Tote.
Wie ist die Situation heute? Passt das wirklich zusammen – billige Klamotten und gute Arbeit?
Ventilatoren surren unter den niedrigen Decken. Neonlicht erleuchtet lange Reihen von Nähmaschinen. Dutzende Arbeiter:innen sitzen eng hintereinander, mehrere Herstellungslinien nebeneinander. Dazwischen Berge von Stoffen, Stapel von Einzelteilen, die am Ende zu Kleidungsstücken zusammengefügt werden. Hunderte Male täglich zieht jede Beschäftigte an ihrer Maschine dieselben zwei, drei Nähte, gibt die Stücke an die Kolleg:innen weiter, die die nächsten Schritt ausführen. Kurze, präzise Handgriffe, alles geht sehr schnell. Schwere Arbeit, die leicht aussieht. Bis zu elf Stunden täglich, sechs Tage pro Woche.
Ein Arbeiter öffnet jetzt den Schaltschrank in einer Ecke des Produktionsgeschosses. Zahns Leute schauen sich die Verdrahtung an. Reicht sie für die Stromstärke, in welchem Zustand sind die Sicherungen? KiK hat von seinen Zulieferern in den vergangenen Jahren verlangt, die Elektrik zu modernisieren, denn Kurzschlüsse können Brände auslösen. Nun wird der Strom im gesamten Stockwerk gekappt. Das Rauschen der Propeller und Maschinen verstummt. Leuchten die Schilder über den Notausgängen trotzdem, damit das Personal bei Bränden den Weg nach draußen findet? Und funktionieren die Alarmsirenen in allen Stockwerken? Abgehacktes, lautes Tröten. Okay, Zahn nickt, hört sich gut an.
Weiter zum Check der Feuerlöscher im Erdgeschoss. Vorbei an den Näherinnen und Nähern, die die Fremden fasziniert und ein bisschen ängstlich betrachten, hetzt der Tross weiter. Mit dabei immer ein paar Arbeiter:innen, die eilfertig Papiertücher reichen, wenn den Besucher:innen der Schweiß über die Gesichter rinnt.
Die KiK-Leute drängeln. Sie reiten hier ein wie die Herren, geben Anweisungen und setzen die einheimischen Manager unter Druck. Der Besuch war zwar angekündigt, aber erst vor Ort entscheiden Zahn und seine Leute, was genau sie sehen wollen. Die Fabrik soll keine Chance haben zu schummeln. Alle Sicherheitssysteme müssen jederzeit funktionieren. „Wir reden Tacheles und lassen uns nicht einlullen“, sagt der KiK-Chef. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es der größte Fehler ist, wenn man zunächst mit den Besitzern im Büro plaudert und sich dann erst etwas zeigen lässt.“
Welche Fabriken bei dieser Reise besucht werden, hat KiK ausgesucht. Der journalistische Einblick ist deshalb begrenzt. Grundsätzlich denkbar ist, dass alle Firmenvertreter und Beschäftigten ein geschöntes Bild zeichnen. Nicht ausgeschlossen erscheint, dass die Arbeitsbedingungen anderenorts schlechter sind, beispielsweise bei den Zulieferern der Zulieferer. Der Korrespondent, der die Reise unter anderem mit Unterstützung der taz unabhängig finanziert, ist der einzige Medienvertreter. KiK-Chef Zahn will demonstrieren, dass sich in seiner Firma etwas verändert hat.
Es geht hier um viel. In dem Fabrikgebäude Rana Plaza, das 2013 einstürzte, waren auch Textilien für KiK hergestellt worden. Nicht nur starben über 1.100 Beschäftigte, 2.500 weitere wurden verletzt. So etwas soll nicht noch einmal passieren. Damals merkten viele Kund:innen in Europa und Nordamerika erst, unter welch schlechten Bedingungen die Herstellung der Konsumgüter stattfand, die hiesige Geschäfte anboten. Hatte KiK als Textildiscounter in wohlhabenden Bevölkerungsschichten vorher schon keinen guten Ruf, sackte das Image durch Rana Plaza noch mehr ab. „Viele Bürger hatten Bedenken, ob sie unsere Produkte kaufen können“, sagte Zahn 2017 in einem taz-Interview. Und „neue Mitarbeiter zu finden, gestaltete sich zeitweise schwierig, weil Vorbehalte gegen die Firma bestanden.“
Auch wegen Rana Plaza beschloss der Bundestag im vergangenen Jahr das Lieferkettengesetz. Ab Anfang 2023 müssen alle in Deutschland tätigen Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten die sozialen und ökologischen Menschenrechte der Arbeiter:innen ihrer weltweiten Zulieferfabriken schützen, unter anderem für Gebäudesicherheit und Brandschutz sorgen – in allen Branchen, nicht nur der Textilwirtschaft. Und bald dürfte eine EU-Richtlinie folgen, die schärfer ausfällt als das deutsche Gesetz. Währenddessen hat KiK – Folge der Rana Plaza-Katastrophe – einen Teil des Wegs schon zurückgelegt, den die meisten Firmen erst beginnen.
Zwei Autostunden von der Zulieferfabrik entfernt sitzt Amirul Haque Amin an einem langen, blauen Tisch im fensterlosen Besprechungsraum. Seine Mitarbeiterin bringt Kaffee. Die Wände sind mit farbenfrohen Flugblättern für Demonstrationen, Plakaten, Aufrufen und Zeitungsausschnitten tapeziert, auf vielen ist Amin, der Boss, zu sehen. Er leitet die Nationale Textilarbeiter Gewerkschaft von Bangladesch – die größte und älteste derartige Organisation, wie er sagt.
Ihm reicht nicht, was KiK tut. Ja, das Leben der Beschäftigten sei nun besser geschützt, meint er. Was aber ist mit dem Lohn?
8.000 Taka betrage der staatlich festgesetzte Mindestlohn, erklärt der Mann mit den kurzen, grauen Haaren, umgerechnet rund 85 Euro für einen Monat Arbeit. Erstaunlich wenig, selbst Hartz IV-Empfänger bekommen in Deutschland das Zehnfache. Aber Bangladesch ist ein armes Land. Dort leben doppelt so viele Menschen wie hier, ihnen steht aber nur etwa ein Zehntel unseres Wohlstandes zur Verfügung. Also sind die Löhne viel niedriger. In einem armen Land produzieren lassen, in einem reichen verkaufen – das ist ein Mechanismus der Globalisierung.
Auch seine 100 Zulieferer im Land zahlen den Mindestlohn, erklärt KiK, plus Zuschläge für höhere Qualifikation und Überstunden. So erhalten viele Arbeiter:innen Monatsverdienste von bis zu 13.000 Taka, ungefähr 136 Euro. „Aber das ist nicht genug“, schimpft Amin nun, „es müssten mindestens 20.000 sein“ (210 Euro).
An seinem einzigen freien Tag der Woche ist heute ein Arbeiter zu Amin ins Büro gekommen – extra, um mit dem Journalisten zu sprechen. Hossain, 25 Jahre, ist Näher in einer der KiK-Fabriken. Mit Vater, Mutter, Schwester und Bruder lebt er in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Vater arbeitet auf dem Bau, Hossain selbst bringt 13.000 Taka nach Hause. Er rechnet vor: Die Miete kostet fast 10.000, die Lebensmittel für einen Monat 15.000. Damit seien die beiden Einkommen nahezu aufgebraucht, mit den täglichen Busfahrten, Kleidung und Hygieneartikeln wird es schon knapp. Beispielsweise für Arztbesuche bleibt nichts übrig. Als sein Bruder krank wurde, berichtet Hossein, habe er einen Kredit für die Behandlung aufgenommen, den er bis heute abbezahle. Eine öffentliche Krankenversicherung gibt es in Bangladesch nicht.
Existenzsicherndes Einkommen, „living wage“, heißt das Konzept, das Gewerkschafter wie Amin dieser kargen Realität entgegensetzen. Für Bangladesch sollte es zwischen dem Zweieinhalb- und Fünffachen des Mindestlohns liegen, je nach Berechnung verschiedener Organisationen. Und wie wird das Wirklichkeit? „KiK könnte seinen Lieferanten höhere Einkaufspreise zahlen“, schlägt Amin vor. Diese Prämie müssten die Fabriken dann an ihre Beschäftigten weiterreichen. Heute sei das Gegenteil die Regel: Die europäischen und amerikanischen Firmen würden ihre Lieferanten in Bangladesch gegeneinander ausspielen, deren Preise drücken und damit verhindern, dass die Gehälter der Arbeiter:innen steigen. Amins Kollegin Kalpona Akter sieht es ähnlich: „Zusammen mit anderen Auftraggebern sollte KiK vorangehen“ und Prämien über den zu niedrigen Mindestlohn hinaus zahlen.
Patrick Zahn ist auf dem Weg zur nächsten Fabrik. Der Chauffeur lenkt. Man sitzt klimatisiert auf der Rückbank des geräumigen Toyota-SUVs. Reisezeiten von zwei Stunden für 15 Kilometer sind keine Seltenheit. Außerhalb der getönten Scheiben spielt sich das tägliche Gewühl des Straßenverkehrs der 18-Millionen-Einwohner-Stadt Dhaka ab. Hitze, Staub, Stau, alle hupen. Wo immer eine Gasse entsteht zwischen Pkw, Bussen und Containertransportern, quetschen sich Motorrikschas und Mopeds hindurch, auf denen manchmal ganze Familien sitzen.
„Ich will mit gutem Gewissen ins Bett gehen können“, sagt der 45jährige Manager. Seit 2016 führt er KiK im Auftrag der Eigentümer, der Tengelmann-Gruppe. Zuvor leitete er dort den Vertrieb. Der Zusammenbruch der Fabrik Rana Plaza, die Toten und das Leid der Hinterbliebenen hätten ihn „tief angetrieben, das Unternehmen zu verändern“. Wenn er hinzufügt, „das haben wir geschafft“, wirkt er im Reinen mit sich.
Was aber ist mit den miesen Löhnen in den Textilfabriken? Deren Existenz lässt sich kaum bestreiten.
Mehrere Argumente zählt Zahn dazu auf. Erstens: Die Fabriken gehören nicht KiK, sondern selbstständigen Unternehmern in Bangladesch. Zahn zahlt Preise für Lieferungen, nicht Löhne für Beschäftigte. Für letztere sei nicht er als Auftraggeber verantwortlich. Sondern – zweitens – unter anderem die Regierung von Bangladesch, die den Mindestlohn festlege. Tatsächlich ist dieser von 3.000 Taka 2013 auf mittlerweile 8.000 Taka (etwa 85 Euro) gestiegen. Weitere Erhöhungen dürften folgen.
Drittens will Zahn nicht andere Firmen wie Aldi, Lidl, Pepco oder Inditex (Zara) subventionieren, die teilweise in denselben Zulieferfabriken produzieren lassen. Zahlte KiK einseitig höhere Preise, hätten diese Konkurrenten einen Kostenvorteil, weil sie sich nicht beteiligen.
Aber kann der Discounter leicht höhere Einkaufspreise nicht verschmerzen, wenn er sie an seine Kund:innen in den Geschäften weiterreicht? Schließlich beträgt der Anteil des Arbeitslohns, der beispielsweise in einer Zehn-Euro-Jeans steckt, nur wenige Prozent, so dass schon ein Aufschlag von etwa 50 Cent im Endkundenpreis ausreichen müsste, um die Verdienste der Zulieferbeschäftigten ungefähr zu verdoppeln – wenn sie diese Prämie auch ausgezahlt bekämen.
„Kunde ist König“ – dafür steht die Abkürzung KiK. Vergleichsweise arme Leute können sich beim Discounter für vielleicht 40 Euro von den Schuhen bis zur Jacke einkleiden. Wer Hartz IV bezieht oder einen Niedriglohn – diese Schicht umfasst in Deutschland ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung – spüre einen Preisaufschlag von 50 Cent pro Kleidungsstück durchaus und gehe dann mitunter lieber zur Discount-Konkurrenz, sagt Zahn. KiK verliert damit Marktanteil, fürchtet der Manager. Ein schwieriges Argument: Niedrige Löhne in Deutschland begründen dann niedrige Löhne in Bangladesch. Armut rechtfertigt Armut.
In der nächsten Fabrik erwarten Zahn die mit Gewehren bewaffneten Sicherheitsleute vor dem Metalltor. Die beiden dicken Limousinen rollen auf den Hof, der Firmenbesitzer, seine Tochter plus Untergebene begrüßen den Kunden aus Deutschland, kurzes Händeschütteln, dann startet der Sicherheitscheck. Auf dem Weg begegnet Zahn sich selbst. Er lächelt von einem großformatigen Begrüßungsfoto, das im Treppenhaus hängt, daneben der Plan der Fluchtwege.
Hier verlangen die KiK-Leute auch, Interviews mit dem Beschäftigten-Komitee zu führen, das Beschwerden der Arbeiter:innen bearbeiten soll. Ein im Vergleich zur tropischen Außentemperatur tiefgekühlter Besprechungsraum, glänzende Bodenfliesen, dunkler Schreibtisch. Vertreter der Zulieferfirma sind nicht anwesend. Der junge Arbeiter – barfuß, Corona-Maske über dem schwarzen Bart – ist Vize-Vorsitzender des Komitees. Unter anderem berichtet er, dass er regelmäßig elf Stunden täglich an der Nähmaschine sitze, zu den acht normalen kämen drei Überstunden. Macht 66 Arbeitsstunden wöchentlich. Zum Vergleich: In Deutschland leisten die meisten Arbeitnehmer:innen um die 40.
Abendessen im Hotel. Zahn, unrasiert, Hemd zerknittert, entspannt sich, plaudert. Im Sakko sieht man ihn selten. Er ist ein nahbarer Typ, interessiert sich für die Erfahrungen und Meinungen anderer Leute. Manager-Arroganz ist kaum zu spüren. Wobei er einräumt, eine „kurze Lunte“ zu haben. Als er jetzt eher nebenbei von der langen Arbeitszeit in der Fabrik erfährt, sackt seine Laune schlagartig unter Null. 66 Stunden pro Woche widersprechen dem Verhaltenskodex von KiK, der in den Zulieferfirmen aushängt. Dieser orientiert sich auch am deutschen Arbeitszeitgesetz: 60 Stunden wöchentlich gelten als Obergrenze.
Noch beim Essen ordnet der Vorstandsvorsitzende eine Untersuchung an. Er will wissen, ob die Zeitüberschreitung eine Ausnahme oder gang und gäbe ist. Sein Mitarbeiter windet sich: Das könne immer mal vorkommen, gleiche sich im Verlauf von Monaten aber aus. „Wenn diese Information stimmt, dann geht das so nicht und wir schicken morgen unsere Agentur hin“, befiehlt Zahn. KiK arbeitet mit einheimischen Vermittlern zusammen, die das tägliche Geschäft zwischen Lieferant und Kunde koordinieren, aber auch unangemeldete Kontrollvisiten durchführen. Am nächsten Abend ist das Ergebnis da: Zu lange Arbeitszeiten kommen in der Firma bei zehn Prozent des Personals vor. KiK gibt dem Management nun einige Wochen Zeit, den Fehler abzustellen. Bei einem weiteren Besuch werden die beauftragten Kontrolleure das überprüfen.
Zahn ärgert sich. Wer ist denn Mitglied im Bangladesh Accord und wer nicht? Das ist ein Vertrag zwischen internationalen Auftraggebern und Gewerkschaften, erstmals abgeschlossen 2013 als Reaktion auf die Rana Plaza-Katastrophe. Rund 1.700 Textilfabriken in Bangladesch werden regelmäßig kontrolliert, ob sie baulich stabil und gegen Feuer geschützt sind. Fast 200 global agierende Unternehmen machen mit – aus Deutschland unter anderem Adidas, Aldi, Esprit, Hugo Boss, Lidl, Rewe. Und KiK. Händler wie New Yorker, Tedi, Woolworth oder auch Pepco aus Polen fehlen auf der Liste des Accords dagegen. „Wir haben einige Wettbewerber, die niedrigere Standards praktizieren als KiK und von unseren Anstrengungen profitieren“, sagt Zahn. Mit Kritik solle man sich doch in erster Linie diese Firmen vorknöpfen und nicht ständig in seinem Unternehmen nach Problemen suchen. Er fühlt sich ungerecht behandelt.
Zur Wahrheit gehört jedoch auch: In der Lohnfrage bewegt sich so gut wie nichts. Gezahlt werden meist nur die von den Regierungen der Produktionsländer festgesetzten Mindestlöhne plus Überstunden. Wobei die Untergrenze bloß bei einem Drittel oder Viertel dessen liegt, was Organisationen wie die Asia Floor Wage Alliance, ein Zusammenschluss von Aktivisten, Gewerkschaftern und Wissenschaftlern, als existenzsichernde Bezahlung errechnen. Ausnahmen praktizieren allenfalls kleine Unternehmen, die sich an Fairtrade-Standards orientieren, wobei deren Marktanteil über eine Nische im Textilhandel bisher nicht hinauskommt.
Der Stillstand liegt auch an KiK, aber nicht nur. Die anderen europäischen und nordamerikanischen Auftraggeber bewegen sich ebenfalls nicht. Bei den Lohnkosten schlagen sich die großen Marken insgesamt in die Büsche. Der wesentliche Grund: Die Löhne der Lieferanten machen einen kleinen, doch relevanten Posten in den Kalkulation der Unternehmen aus. Wächst dieser, wird es auf die eine oder andere Art teurer, etwa in Gestalt einer geringeren Gewinnmarge, höherer Endkundenpreise oder eines sinkenden Marktanteils. Diesen Effekt wollen alle vermeiden.
Eine kleine Oase in dem grauen, lauten und wühligen Industriegebiet von Dhaka: Es gibt einen künstlichen Weiher, am Rand stehen Mangobäume, der Meeting-Pavillon ist über einen hölzernen Steg zu erreichen. Inmitten seines Fabrikareals hat der Besitzer sich und seinen herausgehobenen Gästen ein Refugium der Lebensqualität eingerichtet. Die Küche ist ausgestattet mit Highend-Haushaltselektronik aus Europa. Man reicht Pizza, Obst und Chickenwings, scharf gewürzt. Kunde und Lieferant plaudern über´s Geschäft. Der Eigentümer erwähnt, dass die Preisvorstellung von KiK seine Gewinnmarge gegen Null drücke. Das lässt sich bezweifeln, wie der Ort des Gesprächs zeigt. Gegenfrage: Würde er die Löhne der Arbeiter:innen erhöhen, wenn der deutsche Auftraggeber die von den Gewerkschaften geforderte Prämie zahlte? Es folgen Ausflüchte und Umschweife. Angeblich steigen die Löhne sowieso, weil es schwer sei Personal zu bekommen.
Das Hin- und Hergeschiebe der Verantwortung geht beim Verband der Textilindustrie von Bangladesch weiter. Bessere Gehälter für die Beschäftigten? Wären die ausländischen Konzerne großzügiger, ließe sich vielleicht etwas machen, heißt es. Aber die Arbeitnehmer:innen sollten bitte auch etwas bescheidener sein. Schließlich verdienten sie schon jetzt mehr als die Lehrer:innen an staatlichen Schulen.
Sie geht Patrick Zahn auf die Nerven, diese ständige Debatte über die zu niedrigen Löhne. Jedoch scheint sie bei ihm auch etwas zu bewegen. Nach einigen Tagen gemeinsamen Fabrik-Hoppings formuliert er eine Idee: Ließe sich der Bangladesch Accord nicht um eine soziale Säule erweitern? Wie wäre es, wenn Kunden, Lieferanten und Gewerkschaften gemeinsame branchenweite Lohnerhöhungen vereinbarten, die den großen Vorteil beinhalteten, dass sie für die Mehrheit der Firmen gleichermaßen gelten? Nicht einzelne Unternehmen liefen damit Gefahr, die Kosten alleine zu tragen und ihre Marktposition zu verschlechtern. Ein wesentliches von Zahns Argumenten gegen auskömmliche Verdienste in der Lieferkette fiele damit weg.
Gewerkschafter Amin kann der Idee etwas abgewinnen – grundsätzlich. Im nächsten Moment ist er skeptisch: „Wollen die das wirklich?“ Oder ist es wieder nur ein Vorschlag, um Zeit zu gewinnen? Das lässt sich augenblicklich schwer sagen. Wobei der Accord in der nächsten Zeit eigentlich anderes auf dem Programm hat. Ein weiteres Land, zum Beispiel Pakistan, soll aufgenommen werden. Dann würden alle Ressourcen erst einmal dafür verwendet, die Sicherheit tausender zusätzlicher Fabriken auf den nötigen Stand zu heben. Schneller ginge es wahrscheinlich, wenn KiK zusammen mit anderen Konzernen ein Pilotprojekt zum Existenzlohn in einigen Zulieferfirmen startete und einfach mal anfinge.
Zahns Reise führt jetzt nach Pakistan, das Land ist für KiK heikler als Bangladesch. Dort gibt es noch kein Abkommen wie den Accord. Die Marken und ihre Zulieferer machen, was sie wollen. Das Desaster, das sich vor zehn Jahren zutrug, ist zudem noch mehr mit dem Namen der Firma verbunden als der Einsturz von Rana Plaza. Beim Brand der Textilfabrik Ali Enterprises 2012 starben 259 Beschäftigte. KiK zahlte Schadensersatz. Jahrelang verhandelte das Landgericht Dortmund über die Klage von Opfern und Angehörigen auf zusätzliches Schmerzensgeld. Es war ein Präzedenzfall, wenngleich KiK schließlich wegen Verjährung ohne Urteil davonkam.
Während Zahns Besuchen seiner Zulieferer in Karachi, der pakistanischen Hafenstadt am Indischen Ozean, schwingt die Erinnerung an Ali Enterprises oft mit: Bei den Befragungen durch die KiK-Leute definieren manche Arbeiter:innen ihre Wohnorte, indem sie eine Entfernung zum Ort der Katastrophe angeben.
Von seinem Verdienst bei einem der 30 KiK-Zulieferer könne er aber ganz gut leben, sagt der Arbeiter im hellblauen Salwar Kameez, dem knielangen Hemd, das hier viele Männer tragen. Ungefähr 20.000 Rupien (etwa 95 Euro) bringe ihm die Arbeit an der Nähmaschine monatlich ein, etwas mehr als den Mindestlohn von 19.000. Und reicht das für einen erträglichen Lebensstandard? Ja, lautet die Antwort, schließlich lebe er im Familienverband, Vater und Bruder verdienten ebenfalls. So könne man auch etwas Geld zurücklegen. Ähnliches berichtet die Arbeiterin im schwarzen Schleier: Auch sie komme mit dem Mindestlohn einigermaßen zurecht, wobei sie als Alleinverdienerin vier minderjährige Kinder und ihre Mutter mitfinanziere.
„Das kann nicht stimmen“, sagt dazu Nasir Mansoor, der den pakistanischen Gewerkschaftsbund NTUF leitet. Er rechnet vor, dass alleine die Miete und die wegen der Inflation stark steigenden Lebensmittelpreise besonders für Weizen zum Brotbacken den Mindestlohn auffräßen. Seine Erklärung: Wahrscheinlich berichteten die Arbeiter:innen geschönte Versionen ihrer Lebensumstände, da sie damit rechneten, dass der Inhalt der Gespräche den Arbeitgebern zugetragen werde. Wenn KiK Wert auf wahrheitsgemäße Aussagen lege, müssten die Interviews außerhalb der Fabriken und anonym stattfinden, rät Nasir. Er sagt: „Seit Ali Enterprises gab es in den Firmen nur kosmetische Verbesserungen.“ Für KiK sind solche Informationen der Beschäftigten dagegen Bestätigung, dass die Gewerkschaften die Bedeutung der angeblich zu schlechten Bezahlung hochspielten.
Patrick Zahn konzentriert sich auf die Sicherheit. Ein neuer Fabrikbesuch in Karachi: Während im vergleichsweise liberalen Bangladesch vor allem Frauen an den Nähmaschinen arbeiten, sind hier im streng islamischen Pakistan die Männer in der großen Mehrheit. Probealarm im zweiten Stockwerk: Die Beleuchtung wird abgeschaltet, die Maschinen verstummen. Und jetzt? Ein paar Arbeiter schlendern in Richtung Treppenhaus, um das Gebäude zu verlassen. Viele aber bleiben, stehen in Gruppen zusammen, quatschen, scherzen. Sie nehmen den Alarm nicht ernst. Einer der KiK-Mitarbeiter verlangt lautstark, die Fabrik endlich zu räumen. Schließlich sind alle draußen – viel zu langsam, falls es tatsächlich mal brennt. Das ist nicht das einzige Problem: Im Gebäude fehlen auch Brandschutztüren, und die Verdrahtung der Rauchmelder ist marode.
„Heute Abend fliege ich zurück“, wendet sich Zahn an den Besitzer, als sie im Büro sitzen, „bei Ihrer Fabrik sehe ich noch diverse Baustellen“. Der Kunde aus Deutschland droht: Bis zum Jahresende müssten die Probleme behoben sein – sonst werde er den Lieferanten aussortieren.