Blind für die traurige Wirklichkeit

Auf Deutschland rollt eine Welle von Altersarmut zu. Die private Zusatzvorsorge kann die Kürzungen bei der gesetzlichen Rente oft nicht ausgleichen. Experten fordern deshalb ein Umdenken.

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Von Wolfgang Mulke

10. Mär. 2015 –

Lena B. ist Mitte Vierzig, erzieht allein zwei Kinder und hat als Akademikerin auch einen anständig bezahlten 30-Stunden-Job. Das Geld reicht knapp, nur bleibt nichts übrig. Das lässt sie für die Zukunft bange werden. Denn wenn sie 2035 in den Ruhestand eintritt, droht ihr ein Leben am Rande des Existenzminimums. 639 Euro Rente prognostiziert die Deutsche Rentenversicherung (DRV) für sie. Dazu kommen 102 Euro aus der Riester-Rente. Zusammengenommen entspricht dies etwa der durchschnittlichen Zahlung aus der Grundsicherung in Höhe von 758 Euro.

 

Michael N. steht auf dem Papier besser da. Der Mitfünfziger kann mit 866 Euro rechnen, obwohl er am Ende des Arbeitslebens mehr als 40 Beitragsjahre vorweisen kann, von denen er den größeren Teil überdurchschnittlich viel eingezahlt hat. Zusammen mit der privaten Zusatzvorsorge springt sein Alterseinkommen zwar deutlich über die Armutsgrenze. Doch bleibt am Ende nach Abzug der Wohnkosten und der vermutlich stark steigenden Krankenkassenbeiträge nur wenig mehr als der Regelsatz von Hartz IV zum Leben übrig.

 

Die Beispiele sind keine Einzelfälle. Spätestens seit 2012 ist das bekannt. Da veröffentlichte das Sozialministerium eine viele schockierende Tabelle. Ein Baby-Boomer des Jahrgang 1964 kann danach bei einem Einkommen von 2.500 Euro brutto im Monat nach 40 Arbeitsjahren gerade einmal mit 786 Euro Rente rechnen. Das sind fast 150 Euro weniger als ein Rentner im gleichen Jahr für dieselbe Lebensleistung bekam. So wirken die Reformen. Mehr als ein Drittel aller Beschäftigten liegt noch unterhalb dieses Monatsverdienstes.

 

Ursprünglich sollten Riester-Rente und betriebliche Altersvorsorge die Kürzungen bei der gesetzlichen Rente ausgleichen. Doch diese Hoffnung hat sich als trügerisch erwiesen. Nur rund 16 Millionen Beschäftigte haben eine Riester-Rente abgeschlossen. Im Durchschnitt werden nach Angaben des Statistischen Bundesamts etwa ein Prozent des Bruttolohnes gespart, nicht vier Prozent wie vorgesehen. Noch etwas geringer fallen die Beiträge zur betrieblichen Altersvorsorge aus. Doch über den Betrieb sorgt auch nur etwas mehr als jeder zweite Arbeitnehmer vor. „Wir sind weit entfernt vom Ziel einer Lebensstandard sichernde Rente“, warnt der rentenpolitische Sprecher der Grünen, Markus Kurth.

 

Noch eine andere Rechnung geht nicht auf. Die private Zusatzvorsorge wirft wegen der dauerhaften Minizinsen kaum etwas ab. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit einer sich ausbreitenden Altersarmut weiter an. Die aktuelle Rentnergeneration ist noch in geringem Ausmaß davon betroffen. Doch schon jetzt steigt der Anteil der Neurentner, die auf die Grundsicherung angewiesen sind, stark an. Die vor allem betroffenen Jahrgänge, die heute im besten Alter sind, nehmen das Problem noch gar nicht wahr. „Die Fakten werden vollständig verdrängt“, warnt die Sozialexpertin und langjährige DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer.

 

Bald könnte sich die Wahrnehmung ändern. Denn die Bundesregierung muss zum ersten Mal eine Prognose für das Rentenniveau nach dem Jahr 2030 vorlegen. Dann zeigt sich, ob weitere Kürzungen zu erwarten sind, oder die Beiträge für die aktiven Arbeitnehmer deutlich angehoben werden müssen. „Für etwa ein Drittel der Vollzeitbeschäftigten besteht die Gefahr, in Altersarmut zu fallen“, schätzt Engelen-Kefer. Für einen überwiegenden Teil der jüngeren Generationen, vor allem für Frauen, sei die künftige Rente nicht mehr existenzsichernd.

 

Engelen-Kefer fordert daher eine Anhebung des Rentenniveaus auf mehr als die Hälfte des letzten Nettolohnes. Außerdem müsse ein Sicherungsnetz für Geringverdiener mit jahrelanger Berufstätigkeit eingeführt werden. Schließlich plädiert sie für die Abschaffung der Minijobs, mit denen nur geringe Rentenansprüche erworben werden.

 

Den Trend zu mehr Armut sieht auch der Ökonom Friedrich Breyer von der Uni Konstanz. „Es wird ein Schröder II kommen und die Rente weiter kürzen“, befürchtet der Forscher für die Zeit nach 2030. Denn die sonst notwendigen Beitragssätze von weit über 20 Prozent des Lohnes würden von den aktiven Arbeitnehmern womöglich nicht akzeptiert. Breyer schlägt daher Systemänderungen vor. Er will die Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung koppeln. Dies liefe auf eine Rente mit 69 oder mehr Jahren hinaus. Und er schlägt vor, die Rentenansprüche anders zu verteilen. Geringverdiener sollen mit dem gleichen Beitrag höhere Leistungen bekommen als Gutverdiener. „Das würde die Altersarmut um die Hälfte senken“, rechnet Breyer vor. Die Begründung: Wer mehr verdient, lebt in der Regel auch länger und erhält somit insgesamt mehr Rente als ein Rentner mit einst geringem Verdienst.

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