Blumenkohl-Inflation und Euro-Angst

Vor zehn Jahren wurde die D-Mark aus dem Verkehr gezogen und der Euro als Bargeld eingeführt

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Von Hannes Koch

29. Dez. 2011 –

An die Turbulenzen nach der Einführung des Euro-Bargeldes vor zehn Jahren kann sich Marktforscher Hans-Christoph Behr sehr gut erinnern. In den ersten Wintermonaten des Jahres 2002 gab es eine regelrechte „Wutwelle“, so Behr. Es kam vor, dass der Blumenkohl pro Stück drei Euro kostete. Sechs Mark! An den Gemüseständen auf den Marktplätzen stand die Revolution bevor.


Behr arbeitet bei der Agrarmarkt-Informationsgesellschaft (AMI) in Bonn. Schon lange vor dem 1. Januar 2002, dem ersten Tag mit Euro-Bargeld, hat Behr die Preisentwicklung professionell beobachtet. Deshalb weiß er: An vielem, was man dem Euro vorwarf, war die neue Währung nicht schuld. Zum Beispiel am Blumenkohlpreis. Der schoss in die Höhe, weil in Südeuropa außergewöhnliche Kälte herrschte.


Ist der Euro gut oder schlecht, ein Erfolg oder Misserfolg? Diese Frage und der Streit über die Antwort begleiten den Euro seit Beginn – nicht erst seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise, die die europäische Gemeinschaftswährung aktuell ins Wanken bringt.


Die Kälte in Spanien und Südfrankreich als tatsächlicher Grund der Blumenkohl-Inflation interessierte viele Leute 2002 nicht. Sie trauerten der D-Mark nach und unterstelltem dem Euro Übel. Wobei es tatsächlich zu teils erstaunlichen Preisaufschlägen kam, die es angesichts des offiziellen Umrechnungskurses von 1,96 DM zu 1 Euro nicht hätte geben dürfen. Wo die Preise eigentlich hätten halbiert werden müssen, verlangten manche Händler plötzlich zwei Drittel des alten DM-Wertes in Euro – eine Preiserhöhung von 20 bis 30 Prozent. „In solchen Fällen war der Begriff des `Teuro` nicht ganz falsch“, sagt Ökonom Ferdinand Fichtner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).


Besonders zugelangt wurde im Dienstleistungssektor. Kostete ein Wiener Schnitzel im Restaurant beispielsweise bis 31. Dezember 2001 normale elf DM, standen einen Monat später nicht selten sieben Euro auf der Karte. Ähnliche Sprünge machten die Preise im Haar-Business. Zwischen Mitte 2001 und Mitte 2002 stellten die Verbraucherzentralen bei den Friseuren Preiszuwächse von zehn Prozent oder mehr fest. Die Erklärung: Wegen der schlechten Wirtschaftslage und hohen Arbeitslosigkeit hatten sich viele Händler in den Jahren zuvor nicht getraut, die Preise anzuheben. Jetzt holten sie das nach – in der Hoffnung, es falle wegen der Umrechnung von alter in neue Währung nicht so auf. „Die Preissteigerung bei den Dienstleistungen war echt“, sagt AMI-Forscher Behr, im Gegensatz zur oft nur gefühlten Inflation bei Lebensmitteln und anderen Gütern.


Insgesamt aber, so gab das Statistische Bundesamt unlängst bekannt, hielt sich die Inflation des Euro seit 2002 in engen Grenzen. Sie betrug im Durchschnitt der zehn Jahre gerade mal 1,6 Prozent. In der Dekade davor war es mehr – 2,2 Prozent pro Jahr. Um diesen Wert verlor die D-Mark regelmäßig an Kaufkraft.


Was bedeutete das für einzelne Produkte? Runde Tomaten beispielsweise wurden billiger, hat AMI-Forscher Behr ermittelt. Im Durchschnitt der Jahre 1999 bis 2001 kostete ein Kilo umgerechnet 1,62 Euro. 2002 bis 2004 waren es 1,50 Euro, 2009 bis 2011 noch 1,49 Euro. Ähnlich sah es bei Äpfeln der Sorte Jonagold aus: Der Preis sank in den drei Vergleichszeiträumen von durchschnittlich 1,67 Euro auf 1,30 Euro. Aber auch andere Produkte sind aus unterschiedlichen Gründen günstiger geworden. Mobiltelefone bekommt man jetzt im Vergleich zu damals quasi geschenkt – es sei denn, man möchte das neueste Smartphone am Tag des Verkaufstarts erwerben.


Kaum teurer geworden sind in den ersten Jahren nach der Euro-Einführung die Wohnungsmieten. Ein Grund: Die Preise waren in den Verträgen festgelegt. Da mussten die Vermieter einfach umrechnen und konnten nicht tricksen.


Drastisch dagegen ist die Inflation im Energiesektor. Der Mineralölverband gibt den Preis eines Liters Superbenzin für 2001 mit durchschnittlich 1,02 Euro an. 2010 waren es schon 1,41, heute bewegen sich die Kosten im Umkreis von 1,50 Euro. Die steigende Nachfrage in den Schwellenländern wie China und Indien, aber auch die gefürchtete Erdöl-Knappheit sind die Ursachen. In diesen wie in den meisten anderen Fällen sieht man: Die Preisentwicklungen haben ökonomische Gründe und hätten ohne Euro ganz ähnlich stattgefunden.


Vielleicht gehört diese Einsicht zu den Gründen, warum die meisten Deutschen den Euro nach wie vor unterstützen. Nach aktuellen Daten des Brüsseler Zentrums für Europäische Politikstudien (CEPS) tun dies 65 Prozent der Bevölkerung – ein ähnlicher Wert wie 1990 und 2002.


Auch die meisten Wirtschaftsforscher halten die gemeinsame Währung noch immer für eine Erfolgsgeschichte – unter der Voraussetzung, dass die Euro-Zone nicht unter dem Druck der Schuldenkrise zusammenbricht. „Und Deutschland steht auf der Gewinnerseite“, sagt Michael Schröder vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Die geringe Inflation habe sich Deutschland als stärkstes Land der Euro-Zone durch Produktivitätszuwachs und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erarbeitet, so Schröder. Aber auch vergleichsweise geringe Lohnsteigerungen spielten eine Rolle. Die dadurch bedingten Kostenvorteile und Exportüberschüsse gegenüber anderen Euro-Staaten allerdings halten Ökonomen wie Gustav Horn vom gewerkschaftsorientierten Institut für Makroökonomie mittlerweile für eine Ursache der Schuldenkrise.


Und wie geht es jetzt weiter mit der Geldwertstabilität? Nur eine Minderheit der Wirtschaftsforscher rechnet mit zweistelligen Inflationsraten – trotz Schuldenkrise. Zu diesen wenigen gehört Thorsten Polleit, Ökonom bei Barclays Capital. Unter anderem durch den Kauf von Anleihen verschuldeter Staaten spüle die Europäische Zentralbank so viele Milliarden auf die Märkte, dass sich dieses Überangebot schließlich in zunehmender Geldentwertung bemerkbar machen werde, so Polleit.


Die Mehrheit der Ökonomen aber sieht das anders, auch Michael Schröder vom ZEW. Einerseits stelle die Zentralbank den Privatinstituten zwar große Summen Geldes zur Verfügung, damit der Kreditvergabe weiterlaufe. Andererseits entziehe die EZB der Wirtschaft aber wieder Geld, damit die Geldmenge nicht zu sehr wachse. Deshalb, so Schröder, einstehe einstweilen kein Überangebot an Euro, und damit auch keine hohe Inflation.

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