Corona lähmt oder inspiriert

Interview mit Kreativitätsforscher Rainer Holm Hadulla

Teilen!

Von Wolfgang Mulke

12. Apr. 2021 –

Im Lockdown fehlt vielen Leuten die Inspiration. Andere wiederum entwickeln gerade durch die Kontaktbeschränkungen neue Aktivität. Warum das so ist, weiß der Kreativitätsforscher Rainer Holm Hadulla. Der Psychiater und Psychoanalytiker, Jahrgang 1951, lehrt und forscht an den Universitäten in Heidelberg und Santiago de Chile.

Wir erleben derzeit zwei gegensätzliche Phänomene: Einerseits entwickeln Unternehmen, Kulturschaffende oder Gastronomen viele neue Ideen für Geschäftsmodelle, andererseits klagen Heimarbeiter, dass ihnen die Kreativität abhandengekommen ist. Wie passt das zusammen?

Rainer Holm-Hadulla: Die Reaktion hängt zuerst vom jeweiligen Tätigkeitsbereich ab. Arbeitet jemand mit Künstlicher Intelligenz oder als Autor einsam an einem großen Werk, kann die soziale Isolation eine Chance sein, sich ganz auf die Arbeit zu konzentrieren. Erzieher*innen und andere soziale Berufe wie z. B. darstellende Künstler und Künstlerinnen haben dagegen ganz schlechte Karten, weil sie auf Kommunikation und persönliche Resonanz angewiesen sind. Zweitens hängt es von der jeweiligen Phase kreativen Arbeitens ab. Studierende sammeln erst Erfahrungen und bereiten sich auf die kreative Leistungen vor. Sie müssen nicht nur Informationen sammeln, sondern auch sozial lernen. Das geht nur über Kontakte. Wenn dieser Erfahrungsaustausch fehlt, entsteht ein großer Mangel. Anders sieht es bei der 60-Jährigen Professorin aus. Sie hat diese Erfahrungen und kann sie nun beispielsweise verarbeiten, in dem sie ein Buch schreibt. Die Menschen sind je nach Alter und Tätigkeitsbereich vom Lockdown ganz unterschiedlich betroffen.

Viele Menschen fühlen sich ausgelaugt vom Lockdown. Warum fehlt plötzlich die schöpferische Kraft?

Holm-Hadulla: Kreativität wird häufig zu kurz nur als Inspiration, als Kuss der Muse gesehen. Das ist zwar ein wichtiger Teil, aber die Ideenfindung ist nur ein Aspekt. Es kommt darauf an, die Ideen auch durchzuarbeiten. Goethe hat gesagt: Genie ist Fleiß. Wenn Sie in den Lockdown-Alltag schauen, gibt es Bereiche, in denen Sie in der Ruhe Dinge erst ausarbeiten können. Ich habe im letzten Jahr so viel geschrieben wie noch nie in meinem Leben. Bei vielen, besonders Jüngeren ist das anders, sie benötigen unmittelbare Kontakte. Doch die Polemik, Alt gegen Jung auszuspielen, ist schädlich. Man muss die unterschiedlichen Voraussetzungen akzeptieren und bei der Gestaltung des Lockdowns berücksichtigen. Das ist sehr schwierig, weil Politikerinnen und Politiker sehr viele Aspekte berücksichtigen und anschließend unterkomplexe Lösungen durchsetzen müssen.

Ohne den „Kuss der Muse“ kann es aber gar nicht zur zweiten Phase kommen. Woran fehlt es für diesen ersten Schritt?

Holm-Hadulla: Resonanz ist hier das Stichwort. Ein Säugling verkümmert, wenn ihm der Blickkontakt verweigert wird. Das Kind muss körperlich-seelische Resonanz erleben, um sich zu einem sozialen Wesen zu entwickeln, das Selbstwirksamkeit und Freude erleben kann. Das Gesehen- und Beantwortet-Werden ist ein menschliches Grundbedürfnis von der Wiege bis zur Bahre. Künstliche Intelligenz oder Medien können die Erfahrungen mit körperlichen Erfahrungen wie Bewegung, Geruchsempfindung oder Wärme sowie das Gefühl für körperliche Schönheit nicht ersetzen. Die durch soziale Isolation entstehenden Verluste sind erheblich. Die ausschließliche Arbeit im Homeoffice kann erhebliche Freiräume bieten, aber auch zu sozialer Verkümmerung führen.

Ein Sprichwort sagt, Not macht erfinderisch. Widerspricht dies nicht Ihrer Erklärung?

Holm-Hadulla: Große Leistungen entstehen tatsächlich häufig in Notlagen. Die Entwicklung der Covid-19 Impfstoffe ist zum Beispiel eine grandiose Leistung. In der Kunst sind aus Traurigkeit und Melancholie die größten Werke entstanden, von Goethes „Leiden des jungen Werther“ bis zu „Angie“ von den Rolling Stones. Die Not alleine reicht allerdings nicht aus. Es braucht ein Minimum an Sicherheit gebenden und bestätigenden Umgebungsbedingungen. Dazu gehören persönliche Kontakte und Freiräume. Soziale Isolation und übermäßige Angst hingegen beeinträchtigen die Kreativität.

Wie können Menschen die verloren gegangene Inspiration wieder erlangen oder dem drohenden Verlust begegnen?

Holm-Hadulla: Es gibt wirksame Strategien. Zunächst sollten die sozialen Ressourcen gepflegt werden, also Freundschaften, die Familie oder kleine Alltagskontakte. Auch hilft Disziplin, zum Beispiel Dinge zu erledigen, für die man keine Zeit haben wird, wenn alles wieder normal wird. Auch eine humorvolle, kritische Distanz zu sich selbst sollten Sie sich erhalten. Aber das alles geht nur in sicheren Verhältnissen. Wenn Sie nicht wissen, woher im nächsten Monat das Geld kommen soll, ist es eine schreckliche Zeit.

Sie sagen, dass komplexe kreative Leistungen erst von älteren Menschen erbracht werden können. Warum ist das so?

Holm-Hadulla: Das ist eine wichtige Frage. Es gibt kreative Leistungen, die nicht von Erfahrungen abhängen, beispielsweise in der Mathematik. Dafür braucht man nicht viel Erfahrungswissen. Mathematische Höchstleistungen können oft schon im Alter von 20 Jahren erbracht werden. Wenn Sie Kulturwissenschaftler sind, viel gelesen und erfahren haben, wird Ihr Hauptwerk erst in späten Jahren erscheinen. Einen Popsong können Sie schon mit 17 Jahren komponieren. Sie kombinieren die Alltagssprache neu und auch die Harmonien, die Sie schon als Kind kennengelernt haben. Für eine komplexe Oper brauchen Sie viel musikalisches Wissen. Musikalisch innovative Opern wie der Falstaff von Verdi wurden um das 80. Lebensjahr komponiert. Auch Pop-Musiker, die schon in jungen Jahren Erfolg hatten, bleiben nur aktiv, wenn sie konzentriert arbeiten. Nehmen Sie Mick Jagger, der selbst in der wildesten Zeit diszipliniert körperlich trainiert und sich tänzerisch-musikalisch weiterentwickelt hat. Das hat es ihm ermöglicht, nicht im Feuer der Popkultur zu verbrennen. Andere wie mein Lieblingsmusiker Jim Morrison von den Doors haben sich ganz ihrem kreativen Blues ausgeliefert. Er ist nach zwei Jahren verglüht, weil er den Schritt zur disziplinierten Ausarbeitung seiner Inspirationen wegen übermäßigem Alkoholkonsum und Drogen nicht gehen konnte.

Kann der Mangel der jungen Leute später wieder ausgeglichen werden?

Holm-Hadulla: Manches ja, manches nicht. Man wird vermutlich gar nicht die persönlichen und sozialen Ressourcen haben, alles nachzuholen. Deshalb muss man schon beim Lockdown mitdenken, was möglich ist. Doch wenn Politiker eine kreative Idee äußern, werden sie sofort gegrillt. Das führt zu einer Verarmung der öffentlichen Auseinandersetzung. Man beschwert sich über zu wenige kreative Lösungen, aber wenn einmal eine ungewöhnliche Idee geäußert wird, fällt eine erregte Öffentlichkeit sofort über sie her. Wenn das originelle und assoziative Denken ein Risiko darstellt, ist dies ein Kreativitätskiller.

« Zurück | Nachrichten »