Das Eis quietscht, zittert und knallt
Interview mit dem Klimaforscher Markus Rex
20. Feb. 2020 –
Ein Jahr lang im Eis eingefroren, driftet das deutsche Forschungsschiff Polarstern durch die Arktis. 300 Wissenschaftler aus 16 Ländern wechseln sich bei ihrer Erforschung des wichtigsten Klimazentrums der Welt ab. Geleitet wird die bisher größte Polarexpedition „MOSAiC“ vom Klimaforscher Markus Rex. Der Physiker arbeitet für das bundeseigene Alfred-Wegner-Institut, das sich mit Meeresforschung befasst und unter anderem Stationen an beiden Polen unterhält. Nach mehreren Monaten an Bord der Polarstern weilt Rex derzeit wieder an seinem Arbeitsplatz in Potsdam, wo er ein erstes Fazit des Projektes MOSAiC zieht. Im März bricht er wieder in Richtung Nordpol auf.
Frage: Dieser Winter ist in Deutschland ungewöhnlich warm, in der Arktis mit minus 30 Grad Celsius gewohnt kalt. Beschert uns das Wetter oder das Klima die hohen Temperaturen?
Markus Rex: Das ist Wetter, aber langfristig vom Klima getrieben. Im Moment liegt auf der Nordhalbkugel ein System, das die Stürme auf dem Nordatlantik direkt nach Europa leitet. Das beschert uns die hohen Temperaturen. In den letzten Jahren hatten wir dagegen häufiger im Jetstream einen Verlauf, der kalte Luft hierher und Warmluft in die Arktis führte. Dieser Jetstream ist entscheidend für unser Wetter und er verliert durch die Erwärmung der Arktis an Stabilität.
Frage: Wir hatten früher regelmäßig strenge Ostwindströmungen, mit denen sich die Kälte bei uns richtig festgesetzt hat. Das ist heute kaum noch der Fall.
Rex: Aus persönlichen Beobachtungen auf Trends zu schließen, ist häufig irreführend. Statistiken sind da verlässlicher. Und sie zeigen uns, dass Kaltluftausbrüche aus der Arktis bis zu uns deutlich zugenommen haben in ihrer Intensität und Häufigkeit. Das ist gerade mit der weniger stabilen Zirkulation des Jetstreams verbunden.
Frage: Die Expedition kostet 140 Millionen Euro. Lohnt sich der Aufwand tatsächlich?
Rex: Der Klimawandel ist nicht die einzige, aber eine der ganz großen Herausforderungen unserer Zeit. Wir müssen jetzt sehr tiefgreifende Veränderungen einleiten. Und für die anstehenden Entscheidungen brauchen wir eine robuste wissenschaftliche Grundlage. An dieser arbeiten wir. Wir wollen den Menschen sagen, wenn ihr in den nächsten Jahrzehnten noch diese Menge CO2 freisetzt, dann bekommt ihr dieses Klima, bei einer anderen Menge jenes. Darauf beruhend kann sich die Gesellschaft dann entscheiden, welchen Emissionspfad sie einschlägt.
Frage: Ist die Arktis dabei die größte Wissenslücke?
Rex: Die Arktis ist das Epizentrum des Klimawandels. Sie erwärmt sich mehr als doppelt so schnell wie der Rest der Welt. Sie ist außerdem die Region der Welt, indem unsere Klimaprognosen die größten Unsicherheiten haben. Nehmen wir mal ein Emissionsszenario für Treibhausgase, ein pessimistisches, entlang dessen sich die Emissionen aber leider derzeit tatsächlich noch entwickeln. Für dieses Szenario sagen einige Klimamodelle eine Erwärmung der Arktis um fünf Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts voraus, andere eine Erwärmung um sage und schreibe 15 Grad Celsius. Das sind nicht nur enorme Größenordnung, auch die Unsicherheit, die wir hier in der Arktis noch haben, ist inakzeptabel groß. Wir müssen diese Unsicherheiten reduzieren. Nicht alle, aber viele werden wir mit MOSAiC beseitigen können.
Frage: Gibt es schon ein erstes Fazit nach der Hälfte der Reise über den Nordpol?
Rex: Wir driften in dem Korridor, den wir uns vorgenommen haben und messen um die hundert Klimaparameter kontinuierlich das ganze Jahr über. Dadurch werden wir dutzende von Klimaprozessen besser verstehen und erstmals realistisch in Klimamodellen abbilden können. Bis wir über Ergebnisse berichten können, wird es jedoch noch eine Weile dauern. Es ist, als wenn wir ein kompliziertes Uhrwerk öffnen um zu verstehen, wie es funktioniert. Wir müssen die Funktion jeder kleinen Feder, jedes Schräubchens und jedes der vielen Zahnräder verstehen, um das Funktionieren der Uhr zu begreifen. Aber es gibt nicht die eine kleine Feder, deren Fund den entscheidenden Durchbruch ergibt.
Frage: Funktioniert die Messtechnik gut angesichts der widrigen äußeren Umstände?
Rex: Die Herausforderungen für die Expedition kommen ja nicht unerwartet und wir haben uns darauf vorbereitet. Das Eis ist dünn und dynamisch, viel dünner als in früheren Jahrzehnten. Es reißt häufig und es kommt zu Verschiebungen im Eis, welche den Stadtplan unseres Forschungsstädtchens verändern, Stromleitungen reißen lassen und Wege zerstören. Oder es bricht auf und bildet innerhalb von Minuten riesige Presseisrücken, die wissenschaftliche Ausrüstung und Infrastruktur unter sich begraben. Daher haben wir das Forschungsstädtchen mit autarken Stadtteilen und Stromverteilerknoten sehr modular aufgebaut, so dass wir auf all diese Ereignisse gut reagieren können und ständig flexibel umplanen können.
Frage: Sie sind auf eine rege Tierwelt getroffen. Wovon ernähren sich die Tier dort?
Rex: Das ist tatsächlich erstaunlich, denn die Arktis ist eine lebensfeindliche Umwelt. Es ist in der Polarnacht absolut dunkel die Eisoberfläche um einen herum erstreckt sich mindestens 1.000 Kilometer in jede Richtung und es ist kein Vogel am Himmel. Aber wenn man genauer hinschaut, ergibt sich ein anderes Bild. Es kommen relativ viele Eisbären vorbei und hin und wieder auch Polarfüchse. Die Eisbären finden offenkundig genügend Robben. Die Füchse scheinen von den Hinterlassenschaften der Eisbären zu leben. Die Zahl der Eisbären hat uns schon überrascht. Aber sie kommen ja auch aus einem riesigen Umkreis zu uns. Die Polarstern ist der einzige helle Punkt und weithin sichtbar. Eisbären sind sehr neugierig, weil sie jede Chance ergreifen müssen, Nahrung zu finden, und man kann davon ausgehen, dass jeder Bär, der am Horizont vorbeizieht, auch einen Abstecher zu uns macht. Und im Eis und im Ozean gibt es auch viel Leben, wenn man genauer hin schaut. Im Eis lebt ein ganzes Ökosystem von Mikroorganismen, und direkt unter dem Eis im Ozeanwasser ebenfalls. Sogar in mehreren hundert Metern Tiefe leben in der Dunkelheit Tintenfische und Fische.
Frage: Ist das schon ein Rückzug des Eisbären, weil es an Land schon zu warm ist?
Rex: Eisbären jagen an Land eher nicht. Zunehmend bleiben jedoch einige an Land gefangen, weil sie sich nicht rechtzeitig auf das sich im Sommer jetzt früher zurückziehende Eis begeben und dann durch offenes Wasser von ihrem eigentlichem Lebensraum, dem Meereis, abgeschnitten sind. Ansonsten geht es der Eisbär-Population im Moment sehr gut. Der Eisbär lebt auf dünnem ein- bis zweijährigem Eis, wo Robben sich Atemlöcher freihalten können. Dieses dünne Eis gibt es durch die Klimaveränderung heutzutage überall in der Arktis, wo früher dickes mehrjähriges Eis verbreitet war. Der Lebensraum des Eisbären ist also zunächst größer geworden. Das ist aber natürlich nur ein temporäres Phänomen. Nach dem Dünner werden des Eises wird es verschwinden, wenn der Klimawandel weiter voranschreitet. Und das ist ein großes Problem für die Eisbären.
Frage: Wie ist das Leben in der Dunkelheit, der Stille?
Rex: Wenn man etwas weg geht vom Schiff hat man eine unfassbare, überwältigende Stille. In dieser atemberaubenden Stille hört man nach einem Weilchen dann doch verschiedene leise Geräusche. Ein ganz leises charakteristisches Quietschen des Eises, welches sich unter einem bewegt. Wenn etwas Wind weht, hört man das leise Einschlagen der Eiskristalle, die über den Boden driften. Ein leichtes Rauschen. Wenn der Eisdruck zunimmt, wird es sogar richtig laut und beeindruckend. Die Eisfläche beginnt zu zittern. In wenigen Minuten baut sich unter gewaltigem Rumpeln und lautem Knallen und Kreischen ein hoher Presseisrücken auf.
Wenn der Himmel bedeckt ist, sieht man nur den Lichtkegel seiner Stirnlampe und lebt in dieser Lichtblase, die man sich selbst schafft. Wenn der Himmel aufreißt und es Sternenlicht oder das helle Mondlicht gibt, sieht die tief gefrorene Landschaft mit ihren skurrilen Eisskulpturen und den langen Presseisrücken fast aus wie auf einem fremden Himmelskörper. Zwischen den farblosen fahlen Eisrücken liegen die flachen Ebenen in völliger Schwärze im Schatten und darüber spannt sich am schwarzen Himmel ein nahezu plastischer fantastischer Sternenhimmel.