Das Kreuz mit den Schulden
Weniger Bundesbürgern droht die Pleite. Doch die Zahlen der Statistiker täuschen
16. Nov. 2023 –
Hohe Energiepreise, teure Lebensmittel, unsichere wirtschaftliche Zukunft: Die Bundesbürger haben es schwer, mit ihrem Geld auszukommen. Dennoch ist die Zahl der überschuldeten Personen gesunken – das fünfte Jahr in Folge, wie der Schuldneratlas 2023 von Creditreform zeigt. Dabei hatten die Experten im vergangenen Jahr einen hohen Anstieg erwartet. Und auch für 2024 sind sie pessimistisch.
„Es wird mehr Überschuldete geben“, sagte Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform. Eine konkrete Zahl wollte er nicht nennen. Nach Ansicht von Creditreform gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass die Wende zum Schlechten kommt. So stehe vor allem der Mittelstand unter Druck, sagte Hantzsch. Die Corona-Pandemie, der Ukrainekrieg und seine Folgen, die Energiekrise, die Klimatransformation der Wirtschaft – all das belaste die Firmen und schlage sich in schlechten Konjunkturwerten nieder. In anderen Worten: Es läuft nicht rund, Arbeitsplätze sind in Gefahr. Und Arbeitslosigkeit ist der wichtigste Grund, warum Menschen überschuldet sind. Der Mittelstand stellt in Deutschland die Mehrzahl der Arbeitsplätze.
Für 2023 geht Creditreform im 20. Schuldneratlas von 5,65 Millionen Menschen aus, die überschuldet sind, also ihre Kredite nicht bedienen, Rechnungen nicht bezahlen können. Das sind 233.000 weniger als 2022. Damit sind 8,15 Prozent der Bundesbürger zahlungsunfähig, der niedrigste Wert der vergangenen zehn Jahre. Und das, obwohl es seit Gründung der Bundesrepublik nie so viele Krisen auf einmal gegeben hat.
Ein Grund: Während der Corona-Krise haben viele Menschen gespart, wegen der Ausgangsbeschränkungen war Einkaufen nur begrenzt möglich. Insgesamt handeln die Bundesbürger angesichts der unsicheren Zeiten offenbar deutlich verantwortungsvoller, als die Experten bisher gedacht haben. Außerdem milderten staatliche Eingriffe die Krisenfolgen. Hantzsch nannte unter anderem die kräftige Erhöhung des Mindestlohns, den die Ampel-Regierung verordnet hatte. Gleichzeitig stellte sich keine Energienotlage ein, von der die Creditreform-Experten noch 2022 ausgingen.
Dennoch sind sie pessimistisch für 2024: Denn die Zahlen sehen vor allem wegen eines statistischen Effekts gut aus. Das hat mit der Datenbasis zu tun. Creditreform betrachtet 250.000 Personen weniger als in den vergangenen Jahren. Denn die Bonitätsauskunft speichert Daten zur sogenannten Restschuldbefreiung nur noch sechs Monate statt drei Jahre. Wie die Konkurrenz der Schufa reagiert sie damit auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der die lange Speicherdauer als unzulässig erachtete. Wer eine Privatinsolvenz durchlaufen hat, kann bei Null wieder anfangen, die Restschulden werden erlassen.
Weil sich die Datenbasis geändert hat, scheinen die Creditreform-Zahlen positiver, „aber die Wirklichkeit ist nicht so“, sagte Michael Goy-Yun, Geschäftsführer von Boniversum, das zur Creditreform-Gruppe gehört. Nach alter Rechnung wäre die Zahl der Überschuldeten um 17.000 gestiegen, wie Wirtschaftsforscher Hantzsch sagte. Die Quote würde 8,51 Prozent betragen. Es wäre das erste Plus seit 2019.
Auch anderes deutet aus Sicht der Experten darauf hin, dass mehr Personen künftig Probleme mit ihrem Geld bekommen. So unterscheidet Creditreform in harte und weiche Überschuldung. Bei ersterer steht praktisch der Gerichtsvollzieher vor der Tür, bei letzterer kann ein Schuldner mehrfach seine Rechnungen nicht zahlen, es gibt aber noch keine Klagen. Diese weiche Überschuldung ist deutlich gestiegen, laut Creditreform ein Zeichen, dass mehr Leute Probleme mit ihren Rechnungen bekommen werden.
Vor allem bei denjenigen, die unter 30 Jahre alt sind, steigt die Überschuldung auch nach neuer Rechnung. Ein Grund könnte Goy-Yun zufolge der Trend zu „Buy now, pay later“ sein, wie Goy-Yun sagte. Onlineshops liefern dabei eine Bestellung, der Kunde kann beim Bezahldienstleister in Raten zahlen oder zu einem späteren Zeitpunkt – nichts anderes als ein Kreditgeschäft. Dabei kann der Kunde schon mal den Überblick über seine Finanzen verlieren.
Auch sonst zeigen die aktuellen Zahlen nicht unbedingt, wie es wirklich aussieht. So sind zwar mehr Erwachsene im Alter von 18 bis 29 Jahren überschuldet als 2022, aber die Quote sank von 15,7 Prozent 2013 auf 6,73 Prozent 2023. Von denen die älter als 70 sind, sind 2023 weniger überschuldet als 2022. In den vergangenen elf Jahren stieg die Quote aber von 0,9 auf 2,96 Prozent. Für Boniversum-Geschäftsführer Goy-Yun ein Zeichen, dass Altersarmut ein wichtiges politisches Thema wird.
In Ostdeutschland betrug die Schuldenquote 8,53 (Vorjahr 8,93) Prozent. Sie ist stärker geschrumpft als im Westen (8,08 zu 8,4 Prozent). Allerdings gibt es einen großen Unterschied zwischen Nord und Süd. Die Grenze verläuft sehr grob zwischen Bonn, Erfurt und Dresden. Die fünf Kreise und Städte mit der geringsten Überschuldungsquote liegen mit Werten zwischen 3,54 und 4,17 in Bayern.
Am meisten Probleme mit dem Geld haben Menschen in Bremerhaven (19,02 Prozent), Pirmasens (Saarland, 16,72 Prozent) und Neumünster (Schleswig-Holstein, 16,62 Prozent). Insgesamt sind die Quoten nur in sechs der 400 Kreise und kreisfreien Städte gestiegen. Ein positives Zeichen. Doch bei der weichen Überschuldung ging es in mehr als 220 Kreisen und Städten nach oben. Für Boniversum-Geschäftsführer Goy-Yun ein weiteres Zeichen, dass es für viele Menschen schwieriger wird. Allerdings lagen die Experten ja auch in den vergangenen Jahren falsch.