Das Milliarden-Wunder

Wirecard: Prozess gegen Ex-Chef Markus Braun beginnt

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Von Björn Hartmann

08. Dez. 2022 –

Spektakulärer Aufstieg, dramatischer Absturz: Prozess gegen Ex-Wirecard-Chef Markus Braun beginnt

Ein besonderer Termin, dieser 14. Mai 2019. Über Münchens Innenstadt strahlt die Sonne, und in den weißen Räumen eines Designermode-Studios gewährt Wirecard, Überflieger der deutschen Finanzszene, erstmals einen öffentlichen Blick hinter die Kulissen. Versucht zu zeigen, womit das Online-Unternehmen Geld verdient. Denn das ist seit Jahren nicht offensichtlich. Der Chef des Wirecard Innovation Lab und die Produktvorständin geben Interviews. Mitarbeiter führen vor, wie sich mit dem Ehering bezahlen lässt, erklären den intelligenten Einkaufswagen, der auch Geld für die Ware überweist, zeigen eine App, die Bargeld überflüssig macht. Der schöne Schein der neuen Finanzwelt. Und fast alle glauben es.

Etwas mehr als ein Jahr später ist der Zahlungsabwickler nicht mehr die Zukunft der deutschen Finanzbranche, sondern erledigt. Am 25. Juni 2020 meldet Wirecard Insolvenz an. 1,9 Milliarden Euro fehlen in der Bilanz, waren vielmehr wohl nur erfunden. Vize-Chef Jan Marsalek verschwindet, wird mit Fahndungsplakaten gesucht. Konzernchef Markus Braun weiß nach eigener Aussage von nichts. Die Aktionäre, die an seine Geschichte innig geglaubt haben, verlieren Milliarden. Und rund 6000 Mitarbeiter weltweit stehen vor dem Nichts. Eben noch ein Unternehmen, das die Deutsche Bank kaufen wollte, jetzt der größte Finanzskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Und was für einer: Es geht um die Gier der Anleger, hervorragende Inszenierungen, Geheimdienste, die Pornoindustrie, Glücksspiel. Um Aufsichtsbehörden, die offenbar nicht so genau hinsehen konnten. Und darum, wie mit viel Aufwand verhindert werden sollte, dass die Wahrheit bekannt wird.

Vieles ist immer noch unklar. Möglicherweise wird der Prozess gegen den ehemaligen Konzernchef Braun einiges erhellen, der an diesem Donnerstag in der Münchener Justizvollzugsanstalt Stadelheim beginnt (Az 4 KLs 402 Js 108194/22). Die Anklageschrift hat 474 Seiten. Der Vorwurf: Bilanzfälschung, Untreue, Marktmanipulation und gewerbsmäßiger Betrug. Mit Braun angeklagt sind der ehemalige Chefprokurist Stephan von Erffa und der Geschäftsführer eines Wirecard-Partnerunternehmens in Dubai. Der Prozess ist auf 100 Verhandlungstage angesetzt und wird mindestens bis 2024 dauern. Braun streitet alle Vorwürfe ab.

Der ehemalige Wirecard-Chef sitzt seit Juli 2020 in Untersuchungshaft. Dass er am Donnerstag im schwarzen Rollkragenpullover erscheint, ist eher unwahrscheinlich. Dabei inszenierte er sich gern als Mastermind in der Tradition des legendären Apple-Chefs Steve Jobs, verkündete üppige Umsatzsprünge und satte Kursgewinne – selbst als es sehr eng wurde. Vor Gericht ist wohl eher Demut angezeigt.

Die Geschichte Wire Cards beginnt 1999. Damals wird der Name noch getrennt geschrieben. Das Unternehmen will Zahlungen zwischen Kreditkartenfirmen, Kunden und Onlinehändlern abwickeln. 2005 wird das Unternehmen mit Infogenie verschmolzen, kommt so an die Börse. Markus Braun wird Chef. Wie viele technische Neuerungen nutzen am Anfang vor allem Firmen aus Porno- und Glückspielbranche den Service. Schmutziges Geld zu verdienen, wird Wirecard auch später vorgeworfen. Das Unternehmen dementiert, wie eigentlich immer.

Das Geschäft wächst zunächst langsam, der Aktienkurs auch. Von 2014 an geht es richtig los bei Wirecard, im September 2018 ersetzt der Neuling die altehrwürdige Commerzbank im Deutschen Aktienindex Dax. Das deutsche Tech-Wunder ist zeitweise 25 Milliarden Euro wert. Braun spielt eine Übernahme der Deutschen Bank durch, was prompt öffentlich wird und zum Nimbus beiträgt. Alles, so scheint es, ist beim Finanzdienstleister aus Aschheim bei München möglich.

Wirecard wächst vor allem in Asien. Dort gibt es ein besonderes System: Wo die Firma nicht direkt selbst tätig werden kann, arbeitet sie mit Partnern, die das Geschäft im Auftrag Wirecards abwickeln, und Treuhändern, die das Geld verwalten. Was vernünftig klingt, öffnet auch die Chance dazu, Geschäft einfach zu erfinden. So laufen mehrere hundert Millionen Euro Umsatz und des Wirecard-Geschäfts zeitweise angeblich über eine Partnerfirma in Dubai, deren Büroausstattung bei einem Besuch der „Wirtschaftswoche“ sehr zurückhaltend ist. Verantwortlich für das offenbar aufgeblasene Asien-Geschäft war Vize-Chef Marsalek. Der brüstete sich gern mit seinen Geheimdienstkontakten. Er verschwand nächtens mit einer Privatmaschine Richtung Belarus, soll sich in Moskau aufhalten und hat vorher offenbar noch mehrere hundert Millionen Euro bei Wirecard abgezweigt.

Dass etwas faul ist beim Finanzdienstleister, wusste Dan McCrum schon länger. Der Finanzjournalist der „Financial Times“ schrieb mit Kollegen seit 2015 über Unstimmigkeiten in der Wirecard-Bilanz. Das Unternehmen seinerseits bezeichnete die Berichte als Teil einer Schmutzkampagne von Anlegern, die auf fallende Kurse wetteten. Ein typisches Vorgehen: Wir sind die Guten, die Neider wollen uns fertig machen. McCrum berichtet später davon, sich bedroht zu fühlen. Er arbeitete monatelang in einem fensterlosen, abgeschirmten Raum ohne Internetverbindung, aus Angst, abgehört zu werden.

Wenig überzeugend auch die Arbeit der Finanzaufsicht. Spätestens, als über Unregelmäßigkeiten berichtet wurde, hätte jemand genauer hinschauen müssen. Stattdessen zeigte die Bafin Berichterstatter McCrum an und verbot zunächst sogenannte Leerverkäufe, mit denen Investoren auf fallende Kurse wetten – ein einmaliger Vorgang, der die Anleger in Sicherheit wog. Sie hatten schon vorher darauf vertraut, dass bei Wirecard alles in Ordnung war.

Letztlich zwang der Druck der Enthüllungen Wirecard dann zu Sonderuntersuchungen. Die Wirtschaftsprüfer von EY, die jahrelang die Bilanzen von Wirecard geprüft haben, sind plötzlich nicht mehr so sicher. Und die Kollegen von KPMG finden kein Geld, wo doch Milliarden sein sollen. Im Juni 2020 kann Wirecard dann den Jahresabschluss von 2019 nicht vorlegen. Markus Braun erklärt noch steif, fast wie ein Automat in einem offiziellen Video: „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Wirecard AG in einen Betrugsfall erheblichen Ausmaßes zum Geschädigten geworden ist.“ Dann ist Schluss.

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