Das Wahlrecht als Katalysator

Die Politologin Ulrike Guérot beschreibt einen Weg zur Republik Europa – vom gleichen Wahlrecht zum gleichen Recht auf soziale Sicherheit

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Von Hannes Koch

14. Mai. 2017 –

Eine stürmische Idee – gleiches Wahlrecht für alle EuropäerInnen! Dafür plädiert Politikprofessorin Ulrike Guérot in ihrem Buch „Der neue Bürgerkrieg“. Wie bitte, haben wir das nicht schon? Nein. Gerade deshalb soll diese so einfache und einleuchtende Parole zum programmatischen Kern, zum Katalysator der neuen europäischen Einigung werden, fordert Guérot.


Jedem wahlberechtigten Europäer eine Stimme, pro eine Million Stimmen ein Abgeordneter im Europa-Parlament – so soll das Wahlrecht von Tallinn bis zur Algarve, von Thessaloniki bis Dublin künftig aussehen. Als historisches Vorbild führt Guérot die revolutionäre Bewegung des Vormärz Mitte des 19. Jahrhunderts an, die die Demokratie erkämpfte. In diesem Sinne ist der Titel-Begriff „Bürgerkrieg“ zu verstehen. Wie damals um den Nationalstaat finde heute ein Kampf um Europa statt. Es ist eine „Auseinandersetzung über die Verfasstheit von Staat und Gesellschaft“ zwischen Demokraten und Rechtspopulisten.


Guérot, die an der Universität von Krems und der School of Governance in Berlin forscht und lehrt, sprach unlängst bei einer der Pulse of Europe-Kundgebungen in Frankfurt/Main. Die Wahlrecht-Forderung ist auch auf diese neuen proeuropäischen Demonstrationen gemünzt. Aber kann dieser Slogan die Kraft eines geistigen Leitsterns entwickeln?


Nach dem Prinzip „ein/e Bürger/in, eine Stimme“ würde sich die Sitzverteilung im Europäischen Parlament (EP) verändern. Denn heute werden kleine Staaten gegenüber großen bevorzugt, Estland beispielsweise entsendet mehr Abgeordnete im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl als Deutschland. Infolge des Gleichheitsprinzips entfielen auf Deutschland künftig etwa 16 Prozent der Parlamentarier, nicht 13 Prozent wie gegenwärtig. Auch Italien und Frankreich profitierten. Malta und Estland dagegen müssten sich mit jeweils einem Parlamentarier begnügen, während sie heute sechs schicken. Warum sollten die BürgerInnen kleiner EU-Staaten dieser Beschränkung ihres Einflusses via Wahlrecht zustimmen?


Die Antwort der Autorin lautet: Weil Europa damit zur Republik würde. Diese Staatsform hält sie für unmittelbar attraktiv und mitreißend. Denn wer gleiches Wahlrecht fordert, kann dies nicht tun, ohne allgemeine Rechtsgleichheit, damit auch soziale Gleichheit und Gerechtigkeit anzuerkennen. Die Befürworter des neuen Wahlrechts beantworten Marine Le Pens Frage: „Wer kümmert sich um die Armen, wenn es die Nation nicht mehr gibt?“ auf neue Art: Europa wird ein transnationaler Sozialstaat.


Das in diesem Sinne neu gewählte und beauftragte Parlament kann die europäische Arbeitslosenversicherung einführen. Jeder Erwerbslose, ob in Deutschland, Griechenland, Spanien oder Litauen, erhält zum Beispiel 200 Euro aus europäischen Kassen zusätzlich. Diesem Schritt misst Guérot eine ähnlich epochale Bedeutung zu wie der Einführung der Sozialversicherung durch Bismarck. Guérot betrachtet das Wahlrecht als einen Katalysator in einem sozialen Experiment, das gigantische Energie freisetzt. Das Wahlrecht dient ihr Rammbock, der das Tor in die Zukunft aufstößt.


Ist das nun das unrealistische Theoriekonstrukt einer Politikprofessorin, die die Vorteile der Nationalstaaten unter- und die Bindungskraft eines europäischen Superstaates überschätzt, wie etwa der Soziologe Wolfgang Streeck argumentiert? Vielleicht mag gerade die sozialstaatliche Vision der europäischen Republik die Bürger der kleinen und mittleren Staaten dazu bringen, ihren formalen Einflussverlust zu akzeptieren. Denn in einem republikanischen Europa-Parlament, das selbst volle Rechte besitzt, die EU-Regierung wählt und nicht der Herrschaft des heutigen EU-Rats der Nationalregierungen untersteht, könnte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble seine harte Sparpolitik gegenüber Griechenland nicht mehr durchsetzen.


Und warum sollten die deutschen Pulse of Europe-Demonstranten so etwas unterstützen? Vielleicht aus Empathie mit den Bürgern der Nachbarstaaten und aus aufgeklärtem Eigeninteresse. In der europäischen Republik hätte Deutschland dann zwar weniger zu sagen, und die Sozialpolitik wäre teurer als heute, aber selbst lebte man ebenfalls besser, wenn es beispielsweise eine zusätzliche Versicherung gegen Erwerbslosigkeit gäbe. Aufschlussreich wäre es, unter den Pulse of Europe-Leute eine Umfrage zu veranstalten: Seid ihr damit einverstanden, dass Deutschland zugunsten der Republik Europa zurücktritt? Und würdet Ihr Euch das ein paar Milliarden Euro pro Jahr kosten lassen?


Ulrike Guérot: Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde. Ullstein Buchverlage. Berlin 2017. 94 S., 8 €.

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