Der Seelendoktor der Finanzen

Ex-Verfassungsrichter Kirchhof empfiehlt einen Abschied von der Schuldenpolitik – mit Einschnitten für alle

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Von Hannes Koch

22. Aug. 2012 –

Dieses erhellende, aber auch unerquickliche neue Buch haben jetzt alle Bundestags- und Landtagsabgeordneten, sowie alle Regierungsmitglieder der Republik auf ihren Schreibtischen liegen. 5.000 Exemplare von Paul Kirchhofs Werk „Deutschland im Schuldensog“ wurden kostenlos verteilt. Der 69jährige Finanzrechtler und ehemalige Bundesverfassungsrichter gibt darin einige schmerzende Ratschläge. Der wichtigste: Deutschland - also wir alle – sollten die mehr als zwei Billionen Euro zurückzahlen, die unsere Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten als öffentliche Schulden aufgenommen haben.

Kirchhof erspart seinen Lesern die unbequeme Begründung nicht. Sie lautet: Die Deutschen, wie auch die Einwohner anderer europäischer Staaten, litten an kollektiver Schizophrenie. Als Steuerbürger plädieren sie einerseits dafür, dass der Staat ihre Belastung senken soll, so Kirchhof. Dadurch hat die öffentliche Hand weniger Geld zur Verfügung. Andererseits nehmen die Bürger jedoch gerne die öffentlichen Dienste und ihre steigenden finanziellen Leistungen in Anspruch. Diesen Widerspruch tarieren die gewählten Regierung dadurch aus, dass sie das fehlende Geld mittels immer neuer Kredite beschafften, erklärt Kirchhof. Ergebnis: Die öffentliche Verschuldung steigt. Gegenwärtig kulminiert sie in der europäischen Schuldenkrise.

Sich beliebt zu machen, ist nicht Kirchhofs erstes Ziel. Das mussste schon Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2005 erfahren, als sie den Finanz-Professor in ihr Schattenkabinett berief. Kirchhof schlug damals vor, eine einfache, einheitliche Einkommensteuer von 25 Prozent unabhängig vom individuellen Verdienst einzuführen. Damit setzte er sich dem Vorwurf der steuerlichen Ungerechtigkeit zu Lasten der kleinen Leute aus. Bundeskanzler Gerhard Schröder nahm diesen Vorwurf dankbar auf und nannte Kirchhof herablassend nur noch „den Professor aus Heidelberg“.

Dieser Mann attackiert in seinem Buch nun auch die Bundesregierung. Die Schuldenbremse im Grundgesetz sei zwar ein Fortschritt, reiche aber bei weitem nicht aus. Kirchhof wundert sich darüber, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zwar ständig mehr Steuern einnehme, trotzdem aber weiter zusätzliche Schulden aufhäufe – im kommenden Jahr sollen es 21,5 Milliarden Euro sein.

Um mit solchen Missständen aufzuräumen, macht Kirchhof sehr grundsätzliche, radikale Vorschläge. Er verlangt „ein neues Denken, eine Kultur des Maßes“. Damit die Zinszahlungen für die öffentlichen Schulden den Staat finanziell nicht erdrosseln, sollen die alten Kredite nach und nach getilgt werden. Regierung, Bundestag und Bundesrat dürfen dafür neue Steuern erheben, sagt Kirchhof. In Frage käme eine Vermögensabgabe wie sie SPD und Grüne erwägen, eine Umsatzsteuer auf Finanztransaktionen oder auch eine Art Solidaritätsbeitrag. Sämtliche zusätzlichen Steuereinnahmen, die durch eine gute Wirtschaftsentwicklung in staatliche Kassen fließen, sollten ausschließlich zur Schuldentilgung eingesetzt werden. Sind solche Vorschläge realistisch? Im Augenblick sieht es nicht danach aus. Eine Regierung, die derartige Ratschläge umsetzte, hätte nichts mehr zu verteilen.

Paul Kirchhof: Deutschland im Schuldensog. Der Weg vom Bürgen zurück zum Bürger. München 2012. C.H.Beck, 309 Seiten, 19,95 €.

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