Der Sozialstaat nach Corona

Nicht jede Ungerechtigkeit hat was mit dem Virus zu tun

Teilen!

Von Hannes Koch

04. Apr. 2020 –

Die Corona-Krise ist zuerst eine medizinische, keine soziale. Auch keine ursächlich ökologische oder gesellschaftliche. Deswegen hat es keinen Sinn, wenn nun alle möglichen Leute das Virus missbrauchen, um ihrer politischen Lieblingsforderung neue Kraft einzuhauchen. Das gilt für das Grundeinkommen ebenso wie für die Vermögensteuer, zusätzliche Polizeikompetenzen oder die Abschaffung des Flugverkehrs.

Kaum wurde das Virus hierzulande ernst genommen, startete die öffentliche Debatte über die sozialen Auswirkungen der Krise. Diese aber schafft keine neue, zusätzliche Ungerechtigkeit. Mit oder ohne Corona ist Deutschland so gerecht oder ungerecht, wie man es vom jeweiligen politischen Standpunkt aus definieren möchte. Wohl aber tragen die Schließung vieler Geschäfte, die Ausgangsbeschränkungen, zunehmende Kurzarbeit, der Wegfall von Einnahmen und der Produktionsstopp in Fabriken dazu bei, die schon vorhandene Ungleichheit zu verschärfen. Die sozialen Differenzen werden größer – das ist eine mittelbare Wirkung dieser wie auch anderer Krisen.

Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell verwendet den Begriff „Hierarchie der Not“. Leute mit ausreichenden finanziellen Ressourcen können den ökonomischen Schock besser abpuffern als diejenigen, die wenig oder keine besitzen. Wer hunderttausend Euro auf dem Konto hat und im Eigentum wohnt, mag ein paar Monate ohne Umsatz einigermaßen überstehen, während schlecht bezahlte Beschäftigte in Kurzarbeit vielleicht Hartz IV beantragen und sich Sorgen über ihre Miete machen.

Am häuslichen Schreibtisch zu sitzen, Texte zu schreiben, ab und zu mal bei einer Videokonferenz vorbeizuschauen, bietet den Luxus relativer Sicherheit vor Ansteckung, während die Beschäftigten im Supermarkt dem Virenflug direkt ausgesetzt sind. Stabile, wohlhabende Familien können ihre Kinder in der schulfreien Zeit besser selbst unterrichten, als arme Alleinerziehende in engen Wohnungen. Und insgesamt kommen wir in den reichen Staaten deutlich einfacher durch die Krise, als die Näherinnen in Bangladesch, die normalerweise unsere Bekleidung produzieren, jetzt aber keinen Lohn mehr erhalten.

Wobei die These von der Verschärfung vorhandener sozialer Differenzen auch nicht überall stimmt. Viele Geschäfte, denen es unter normalen Bedingungen gut geht, sind nun existenziell bedroht. Kleine und große Handwerksbetriebe, Einzelhändler, Reisebüros gehen pleite, wenn der Shutdown länger als vier Wochen dauert. An Einfamilienhaustüren, hinter denen sonst mittelständische Auskömmlichkeit regiert, klingelt bald der Gerichtsvollzieher.

So könnten Fragen für die Zukunft lauten: Welche sozialen Probleme werden durch diese Krise greifbarer, welche Ungerechtigkeit fällt jetzt besonders ins Auge?

Hart trifft die Epidemie Obdachlose. Deren Schicksal ist der gutbetuchten Mehrheit sonst zwei Euro fürs Türe-Aufhalten bei der Sparkasse wert. Jetzt sind die Wohnungslosen oft auch dieser spärlichen Einnahmen beraubt. So sondiert nun der Chef von Karuna, einem Berliner Sozialprojekt, ob sie nicht auch in leeren Hotels wohnen dürfen. Eine plausible Idee – hoffentlich trägt sie später dazu bei, dass die Städte mehr Wohnungen für Obdachlose anbieten.

Hellsichtig hat die Bundesregierung gerade den Zugang zu Hartz IV erleichtert. Als Nothilfe für Künstlerinnen, Musiker und Selbstständige werden deren Vermögen und Wohnungsgröße jetzt nicht mehr überprüft. Das ist ein kleiner Schritt weg von Hartz IV, hin zu einer vernünftigen Grundsicherung - nicht für alle, sondern die, die sie tatsächlich brauchen. Indem der Bundestag die ärmlichen Hartz-IV-Sätze deutlich erhöhte, ließe sich dieser Weg fortsetzen.

Und die oft miese Bezahlung der Beschäftigten im Einzelhandel, der Alten- und Krankenpflege ist schon lange ein Ärgernis. Nun aber erstaunt sie besonders, da es doch gerade diese Leute sind, die uns durch die Krise tragen. Wenn die Arbeitgeberverbände, die Pflegeheime und Krankenhäuser vertreten, weiterhin eine deutlich bessere Entlohnung ihres Personals verweigern und sich gegen allgemeinverbindliche Tarifverträge sperren, muss man ihnen zeigen, dass nicht sie systemrelevant sind, sondern die Pflegerinnen und Pfleger.

Diese und andere Verbesserungen des Sozialstaates würden mehr Geld kosten. Und so wäre es nicht falsch, über höhere Einkommen- und Gewinnsteuern für reiche Haushalte und Unternehmen nachzudenken. Das ist jedoch wieder eine Forderung, die vor Corona genauso richtig war, wie nachher.

« Zurück | Nachrichten »