Der Westen wird weiter für den Osten zahlen

25 Jahre Mauerfall – was haben wir gelernt? Teil 6: In Ostdeutschland gebe es vielerorts noch immer einen „hohen Investitionsbedarf“, sagt Joachim Ragnitz. Der Wirtschaftsforscher prophezeit: Die Wege zum Arzt oder zum Kino werden länger werden - auch i

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Von Hanna Gersmann

29. Sep. 2014 –

Hanna Gersmann: Im Osten ist umgebaut worden. Was war der größte Erfolg der letzten 25 Jahre?

Joachim Ragnitz: 1991 hatte Ostdeutschland gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen ein Drittel der wirtschaftlichen Leistungsniveaus des Westens. Heute liegt es bei Dreiviertel. Der Aufholprozess war enorm. Dabei musste der Osten aus dem Nichts eine neue Wirtschaftsstruktur aufbauen.

Gersmann: Dafür ist aus dem Westen viel Geld geflossen. Verstehen Sie jene, die dort neidisch sind, weil die Autobahnen im Osten besser sind, Geld für Kultur da ist, das Schwimmbad neu gemacht wurde?

Ragnitz: Tatsächlich sind seit 1991 für Investitionen, Wirtschaftsförderung, sozialpolitische Maßnahmen und anderes mehr 1,6 Billionen Euro in den Osten gesteckt worden. Das ist viel Geld und im Westen besteht nun seit fünfundzwanzig Jahren ein Investitionsstau. Da ist es verständlich, dass sich Unmut regt.

Gersmann: Wird der Westen trotzdem weiter für den Osten zahlen müssen?

Ragnitz: Ja, aber vor allem für die Renten- oder die Arbeitslosenversicherung. Denn die Beiträge werden nicht reichen, um die Ausgaben zu decken. Sonderleistungen wird es für den Osten aber nicht mehr lange geben. Denn der Solidarpakt II wird 2019 auslaufen. In vielen mittelgroßen Städten gibt es aber immer noch einen hohen Investitionsbedarf.

Gersmann: Woran liegt es ob Städte an Attraktivität gewinnen oder verlieren?

Ragnitz: Das hängt ganz stark davon ab, wie professionell es in den Rathäusern zugeht. Häufig fehlen jüngere, gut ausgebildete Leute, die die öffentliche Verwaltung voranbringen und das zivilgesellschaftliche Engagement. Die Ausdünnung der Eliten ist das größte Problem des Ostens. Sie schlägt in der Provinz besonders durch.

Gersmann: Die häufigsten Fehler?

Ragnitz: Fehlinvestititionen, Spaßbäder, überdimensionierte Kläranlagen und all so etwas. Auf Dauer konnte man sich die Einrichtungen aber gar nicht leisten, weil die Folgekosten bei der Investitionsentscheidung nicht ausreichend in Betracht gezogen worden sind.

Gersmann: Hat sich der SPD-Politiker und einstige Bauminister Wolfgang Tiefensee geirrt als er sagte, Ostdeutschland sei ein soziales Testlabor, die Länder bewältigten dort „aus eigener Kraft Strukturprobleme beispielhaft für die ganze Bundesrepublik"?

Ragnitz: Schrumpfungsprozesse, der Geburtenschwund, die Arbeitslosigkeit, die Abwanderung, finden nicht nur in der Uckermark oder im Erzgebirge statt. Sie gibt es auch in der Eifel, im Hunsrück oder auf der Schwäbischen Alb. Nur in der Anpassung ist der Osten schon viel weiter; insoweit hat Tiefensee recht.

Gersmann: Was lernen Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfälzer oder Schwaben vom Osten?

Ragnitz: Im Osten wird zur Zeit viel experimentiert. In die Linienbusse in der Uckermark steigen zum Beispiel nicht nur Passagiere ein. Mit ihnen werden auch Pakete oder Tiefkühlkost in die entlegensten Orte transportiert. Die Verkehrsunternehmen nehmen damit mehr ein. Ihr Angebot kann aufrecht erhalten werden.

Gersmann: Und sonst?

Ragnitz: Ein anderes Beispiel: In Mecklenburg-Vorpommern lohnt sich nicht in jedem Ort ein Gemeindezentrum. Damit die älteren Leute nicht vereinsamen, bringt sie nun ein Shuttle in ein Kultur- und Gesundheitszentrum in die nächstgrößere Stadt. Für sich erscheint jedes Projekten klein, aber alle zusammen können den ländlichen Raum stabilisieren. Und sie sind nicht teuer.

Gersmann: Aber auch in kleineren Orten muss es einen Arzt geben oder einen Supermarkt, denn der Bund hat die Aufgabe gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen. Da macht man sich etwas vor?

Die gleichwertigen Lebensbedingungen werden tatsächlich neu definiert werden müssen. Einiges lässt sich über das Internet abwickeln. Zum Arzt, zum Schwimmbad oder zum Kino fährt man statt derzeit 30 Minuten künftig aber womöglich 50. Und zwar nicht nur im Osten, sondern auch andernorts in der Republik.

Gersmann: Wie lange werden wir noch von Ost und West sprechen?

Ragnitz: Diese Unterscheidung ist längst hinfällig. Von der Wirtschaftskraft her ist Jena einer Stadt wie Osnabrück ähnlich, die Lausitzer Landkreise jenen im Hunsrück. Die einen sind strukturstarke, die anderen -schwache Regionen. Von letzteren gibt es im Osten allerdings noch immer sehr viel mehr.

Joachim Ragnitz

geb. 1960, ist seit 2007 stellvertretender Geschäftsführer der Niederlassung Dresden des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Er forscht zur wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands.

 

Die Serie: 25 Jahre Mauerfall
Im November werden 25 Jahre seit dem Fall der Mauer vergangen sein. Im Osten ist kräftig saniert worden. Oder: Was kann die Republik aus dem Umbau lernen - für das Leben in der Stadt, für die medizinische Versorgung, für die Ansiedlung von Industrie, für die Landwirtschaft oder für den Solidarpakt? Die Serie in 6 Teilen – heute der letzte Teil: Und nun?

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