„Deutschland lebt quasi im Idealzustand“

2019 sinkt die Arbeitslosigkeit wohl unter fünf Prozent. Ökonomisch kann es kaum besser gehen, sagt Wirtschaftsforscher Claus Michelsen. Woher kommt dann die verbreitete Unzufriedenheit?

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Von Hannes Koch

06. Sep. 2018 –

Hannes Koch: Kaum noch Arbeitslosigkeit, der Staat erwirtschaftet Überschüsse. Ökonomisch erlebt die Bundesrepublik gerade goldene Zeiten. Oder täuscht der Eindruck?

Claus Michelsen: Wir sind tatsächlich in einer sehr komfortablen Situation. Seit dem Fall der Mauer war die Lage nie so gut wie jetzt. Unseren Prognosen zufolge sinkt die Arbeitslosigkeit 2019 unter fünf Prozent. In diesem und nächstem Jahr erzielt der Staat Überschüsse von jeweils etwa 60 Milliarden Euro. Aber nicht alle Bürger profitieren von der Entwicklung. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um die Aufgaben anzupacken, die liegengeblieben sind. 

Koch: Gab es hierzulande schon mal eine ähnliche Wohlstandsphase?

Michelsen: Während des Wirtschaftswunders in den 1950er bis 1960er Jahren. Es ist schon erstaunlich, dass wir jetzt einen Aufschwung erleben, der vor acht Jahren begann und noch einige Zeit anhalten dürfte. Stetiges Wachstum ohne größere Schwankungen - das ist quasi der Idealzustand aus konjunkturpolitischer Sicht.

Koch: Wie lange geht es so weiter?

Michelsen: Bis 2020, nehmen wir an. Danach dürften sich allmählich mehr Probleme bemerkbar machen, die mit dem demografischen Wandel zusammenhängen. Die Arbeitskräfte könnten knapper werden, was das Wachstum einschränkt.

Koch: Trotz der super Lage herrscht große gesellschaftliche Unruhe. Die SPD kämpft um ihre Existenz als Volkspartei. Gerade wurde die linke Bürgerbewegung „Aufstehen“ ausgerufen. Welche sozialen und ökonomischen Ursachen sehen Sie für diese Krisenphänomene?

Michelsen: Der Wohlstand kommt nicht allen zugute. Die 20 Prozent der Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen haben seit der Wende nicht profitiert. Sie verdienen heute weniger als damals. Auch ist der Staat seinen Aufgaben nicht so nachgekommen, wie er es hätte tun sollen. Er hat Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Freibäder und Straßen vernachlässigt, um nur einige Beispiele zu nennen.

Koch: Aber jetzt haben wir das Geld, um alles wieder in Schuss zu bringen?

Michelsen: Ja. Wir müssen und können die öffentliche Infrastruktur erneuern. Das gilt besonders für die Städte und Gemeinden. Der Bund sollte ihnen mehr Mittel dafür zur Verfügung stellen. Und es ist auch an der Zeit, die unteren Einkommensschichten zu entlasten. Die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt zu senken kostet etwa 12 Milliarden Euro und würde besonders den Bürgern helfen, die knapp bei Kasse sind.

 

Claus Michelsen (37) ist neuer Konjunktur-Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

 

Blick in die Zukunft

Die bundesdeutsche Wirtschaft wächst solide weiter - um die 1,8 Prozent 2018 und 2019. Die Erwerbslosigkeit sinkt ab kommenden Jahr wohl unter fünf Prozent. Hunderttausende Arbeitsplätze entstehen zusätzlich. Die Löhne der Erwerbstätigen steigen mit rund drei Prozent jährlich kräftig. Diese Perspektiven sehen grundsätzlich alle Wirtschaftsinstitute (DIW Berlin, ifo München, IfW Kiel, IFW Halle), die am Donnerstag ihre Prognosen veröffentlichten. Unterschiede gibt es in Details, politischen Empfehlungen und Erwartungen, wann der Aufschwung zu Ende geht. Darauf, dass es nicht immer so weiter geht, muss man sich einstellen. Probleme bereiten könnten die Konflikte um den internationalen Handel zwischen den USA und anderen Staaten, der Brexit oder der Krieg in Syrien.

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