• Klaus Dörre |Foto: privat
    Klaus Dörre |Foto: privat

„Die Bürger wollen im Alter nicht von Robotern versorgt werden“

Soziologie-Professor Klaus Dörre spricht über die Folgen des technischen Fortschritts für Arbeit und Beschäftigte. Die vierte industrielle Revolution ist das Hauptthema des diesjährigen Weltwirtschaftsforums in Davos.

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Von Hannes Koch

18. Jan. 2016 –

Hannes Koch: Sie sind Professor für Soziologie an der Universität Jena. Zu Ihrem Berufsbild gehört es, sich anspruchsvolle Gedanken zu machen. Ist auch Ihre Tätigkeit in Gefahr, im Zuge der nächsten, der vierten industriellen Revolution durch Maschinen ersetzt zu werden?

 

Klaus Dörre: Das Weltwirtschaftsforum in Davos wird wohl die Vorteile der Digitalisierung betonen, die Möglichkeiten neuen Wohlstandes. Aber in den USA ist schon 2008 das Buch „Die letzten Professoren“ erschienen. Manches deutet daraufhin, dass unser klassisches Berufsbild tatsächlich dabei ist zu verschwinden. Beispielsweise durch E-Learning: Da haben manche Professoren 120.000 Hörer in ihren Internet-Vorlesungen. Setzt sich diese Entwicklung fort, wird viel Lehrpersonal überflüssig.

 

Koch: Wie sieht es bei mir als Journalist aus?

 

Dörre: Interviews wie dieses hier wird man noch lange nicht maschinisieren können. Aber auch in Ihrem Beruf gibt es Anzeichen: Kleine Sportartikel mit den Basiszahlen zu einem Fußballspiel können bereits vom Computer geschrieben werden.

 

Koch: Erläutern Sie bitte an einem Beispiel, was „vierte industrielle Revolution“ bedeutet?

 

Dörre: Vorstellbar ist Folgendes: Bei einem Mähdrescher verschleisst während der Ernte ein Motorteil. Per Mobilfunk und Internet meldet das Fahrzeug den bevorstehenden Ausfall selbstständig an den Hersteller. Weitgehend ohne menschliches Zutun beginnt dort die computergesteuerte Produktion des Ersatzteils. Innerhalb weniger Stunden kann es per Drohne beim Landwirt eintreffen. Bei dem Rationalisierungsschub, der gerade beginnt, sollen vernetzte Maschinen miteinander kommunizieren und menschliche Arbeit teilweise ersetzen.

 

Koch: „Internet der Dinge“ ist das Stichwort. Mit Sensoren ausgestattete Kleidung könnte dann meine Gesundheitsdaten an die Arztpraxis schicken und eine persönliche Untersuchung überflüssig machen. Wieviele der heutigen Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel?

 

Dörre: Der US-Soziologe Randall Collins hält 80 Prozent der US-Arbeitsplätze für gefährdet – auch die Berufe der Mittelschicht mit qualifizierter Ausbildung. Die Oxford-Wissenschaftler Carl Benedikt Frey und Michael Osborne sehen Risiken für die Hälfte der Jobs in Industrieländern. Vermutlich sind beides jedoch Horrorszenarien. Sabine Pfeiffer von der Universität Hohenheim ist vorsichtiger: Sie meint, dass zwölf Prozent der heutigen Arbeitsplätze rationalisierungsgefährdet seien. Sie betont, dass Fabriken niemals menschenleer sein würden. Es gäbe beispielsweise dauernd etwas zu reparieren und zu überwachen.

 

Koch: Und was denken Sie?

 

Dörre: Wir erleben gerade einen Quantensprung, weil beispielsweise die Leistungsfähigkeit des Internets und die ausgetauschten Datenmengen rasant wachsen. Wie sich das auf die Beschäftigung auswirkt, können wir noch nicht wissen. Die Vergangenheit sagt uns darüber nichts Genaues.

 

Koch: Wir tappen im Dunkeln?

 

Dörre: Ich möchte es positiv formulieren. Die Zukunft ist noch beeinflussbar. Wir haben Optionen. Die meisten Bürger lehnen es vermutlich ab, dass sie im Altenheim von Robotern versorgt werden. Nicht alles, was technisch möglich erscheint, wird auch gemacht.

 

Koch: Während der ersten industriellen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte die wachsende Industrie nicht alle Menschen absorbieren, die in der Landwirtschaft überflüssig wurden. Millionen Deutsche wanderten nach Amerika aus. Kann so etwas nochmal passieren?

 

Dörre: Wohl kaum. Die Bevölkerung in Deutschland wächst ja nicht mehr stark, sondern sie nimmt ab. Aber es gibt Regionen auf der Welt, die von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung abgehängt sind. Von dort versucht ein eher kleiner Teil der Leute dann zu uns zu kommen.

 

Koch: Als zweite industrielle Revolution gelten die Elektrifizierung und die Massenproduktion von Autos und anderen Konsumgütern. Wie war es bei der dritten Stufe, als vor 50 Jahren die Computer eingeführt wurden – ist da die Arbeitslosigkeit in entwickelten Industrieländer gestiegen?

 

Dörre: Im globalen Maßstab gab es wohl keine eindeutigen Arbeitsplatzverluste. In einzelnen Ländern kam es jedoch immer wieder zu Wachstumskrisen und steigender Arbeitslosigkeit, die durch die Rationalisierung mitverursacht wurden. In Deutschland beispielsweise verzeichnen wir seit 1991 eine Abnahme des Arbeitsvolumens. Die Gesamtzahl der geleisteten und bezahlten Arbeitsstunden sinkt. Im Durchschnitt arbeitet heute jeder Arbeitnehmer jährlich zehn Prozent weniger als vor 25 Jahren, nämlich noch 1.313 Stunden pro Jahr (1991: 1.473) – wenngleich in den vergangenen Jahren wieder ein gewisser Anstieg zu verzeichnen ist.

 

Koch: Ist es nicht eine gute Sache, wenn verbesserte Technik und steigende Produktivität uns ermöglichen, weniger zu arbeiten und trotzdem genug zu verdienen?

 

Dörre: Grundsätzlich ja. Aber wir haben es mit einer Polarisierung zu tun. Gut qualifizierte und bezahlte Leute arbeiten oft länger als der Durchschnitt der Beschäftigten, während schlechter ausgebildete Arbeitskräfte weniger Stunden leisten als sie eigentlich möchten. Das sinkende Arbeitsvolumen wird auf mehr Köpfe verteilt. Die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland erreicht ja ständig neue Rekorde, mittlerweile gehen 43,4 Millionen Menschen einer bezahlten Arbeit nach. Ein Ergebnis: Die sogenannten atypischen Beschäftigungen nehmen zu. Viele Altenpflegerinnen haben beispielsweise nur Teilzeitjobs und werden schlecht bezahlt. Millionen Minijobs sind ein ähnliches Phänomen.

 

Koch: In den vergangenen Jahren entstehen jedoch wieder mehr vernünftige Arbeitsplätze.

 

Dörre: Die Zahl der sozialversicherten Tätigkeiten und der Vollzeitstellen nimmt tatsächlich zu. Trotzdem haben wir 1,44 Million weniger Vollzeitarbeitsplätze als im Jahr 2000. Vor allem Frauen werden um den Preis in den Arbeitsmarkt integriert, dass diese Tätigkeiten mit einem hohem Armutsrisiko verbunden sind. Es stellt sich also die Frage, ob man die Dividende der Rationalisierung, den materiellen Gewinn des technischen Fortschritts gleichmäßiger verteilen kann.

 

Koch: Dafür müssten die profitierenden Unternehmen und Beschäftigten Geld und Zeit abgeben?

 

Dörre: So ist es. Ein Modell bestünde darin, dass die produktiven Exportsektoren der deutschen Wirtschaft einen höheren Teil ihrer Gewinne als heute abführen, damit man beispielsweise die Beschäftigten in Altenpflegeheimen besser bezahlen kann, ohne sie teilweise durch Pflegeroboter zu ersetzen, die zweimal am Tag die Medikamente an´s Bett bringen. Diesen Finanztransfer könnte man mit Hilfe der Steuerpolitik organisieren.

 

Koch: Das klingt nicht sehr realistisch.

 

Dörre: Nein, große Industrieunternehmen, die Wirtschaftsverbände und teilweise auch die Betriebsräte exportorientierter Unternehmen würden sich wohl gegen eine solche Art der Umverteilung wehren.

 

Koch: Steigen im Zuge der neuen industriellen Revolution die Bildungsanforderungen an die Beschäftigten?

 

Dörre: Wenn die Produktionen komplizierter werden, brauchen die Firmen mehr Personal, das diese Prozesse steuern kann. Andererseits sterben aber die einfachen Tätigkeiten nicht aus. Auch automatisierte Fabrikhallen muss man säubern und renovieren.

 

Koch: Was halten Sie von dem Rat an Schüler: Je qualifizierter Eure Ausbildung, desto angenehmer und besser bezahlt der spätere Beruf?

 

Dörre: In der Tendenz stimmt diese Aussage. Allerdings möchte ich damit eine Warnung verbinden: Die Wahrscheinlichkeit, einen qualifikationsgerechten Arbeitsplatz zu finden, nimmt ab. Das ist unter anderem eine Folge der rasanten technischen Innovation, mit der auch Erlerntes schneller veraltet. Darauf müssen sich die jungen Leute einstellen.

 

Koch: Das Internet lässt viele Verdienstmöglichkeiten entstehen, die es früher nicht gab. Man kann seine Wohnung über die Internetseite Airbnb vermieten, mit dem 3D-Drucker bald Konsumgüter wie Teller, Tassen oder Fahrradteile zu Hause produzieren und billige Lebensmittel aus städtischen Gemeinschaftsgärten beziehen. Können dadurch künftig nicht viele Leute ganz gut über die Runden kommen, die sich heute nur mühsam finanzieren?

 

Dörre: Das ist eine Utopie. Aber ich bin skeptisch. Denn oftmals ermöglichen die neuen Tätigkeiten nur ein finanzielles Zubrot. Wer sich darauf verlässt, braucht Einnahmen aus verschiedenen Quellen. Ich weiss nicht, wie angenehm ein solches Dasein als Unternehmer seines eigenen Alltags ist. Und was die gemeinschaftliche Nutzung von Daten und Ressourcen betrifft, so wird sie in der Regel politisch nicht unterstützt. Auch das macht solche vermeintlich verheißungsvollen Lebensentwürfe schwierig.

 

Koch: Tut die Bundesregierung genug, damit die Gesellschaft die vierte industrielle Revolution verkraftet?

 

Dörre: Nein. Die deutsche Politik treibt den technologischen Fortschritt voran, ohne die sozialen Konsequenzen ebenso intensiv zu bedenken. Das Bundeswirtschaftsministerium betrachtet die Digitalisierung ausschließlich als industriepolitische Herausforderung. Mit Hilfe der Forschungsinstitutionen investiert man sehr viel Geld in technologischen Fortschritt, um die deutsche Industrie international konkurrenzfähig zu halten. Was aber bedeuten diese Prozesse für die Beschäftigten, für die Finanzierung von Weiterbildung und Altenpflege, brauchen wir einen neuen sozialen Konsens? Solche gesellschaftlichen Fragen werden augenblicklich kaum thematisiert.

 

Bio-Kasten

Klaus Dörre (58) lehrt und forscht als Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Er ist Spezialist für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie. In den vergangenen Jahren beteiligte er sich unter anderem an einem Forschungsprojekt zur Zukunft der Wachstumsgesellschaft.

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