Die Krise bleibt möglich

Analyse zum Lehman-Jahrestag von Hannes Koch

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Von Hannes Koch

14. Sep. 2009 –

Heute ist es ein Jahr her, dass die Finanzkrise ins Alltagsbewusstsein drang. Am Montagmorgen des 15. September 2008 meldeten die Nachrichten, dass Lehman Brothers, eine der größten Investmentbanken der New Yorker Wallstreet, Gläubigerschutz beantragt hatte. Bankrott! Von solch einem Zusammenbruch sei das stabile deutschen Bankensystem weit entfernt, sagte Bundesfinanzminister Peer Steinbrück an jenem Vormittag. Er sollte sich täuschen. Hunderte Milliarden Euro setzte der Staat auch hierzulande ein, um die Finanzwirtschaft am Leben zu erhalten. Jetzt stellt sich die Frage: Haben all die Notmaßnahmen und Reformen etwas genützt oder wäre eine ähnliche Krise heute noch immer möglich?


Unglaublich viel hat sich in diesem einen Jahr verändert. Ein ganzes Gedankengebäude ist eingestürzt. In den Jahrzehnten vor 2008 hatte der Glaube an den freien Markt weltweit triumphiert und man sang das hohe Lied des ungehinderten Wettbewerbs und der großen Kapitalgewinne. Die liberale Theorie, unbeschränkter ökonomischer Eigennutz führe automatisch zum Vorteil aller, hat die Krise jedoch nicht überlebt. Auf der theoretischen Ebene zumindest etablierte sich ein neuer Konsens. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichts Präsident Nicolas Sarkozy, US-Präsident Barack Obama und andere Regierungschefs behaupten nun wieder das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft.


Diese Renaissance des politischen Gestaltungswillens trifft auf die Schwäche der Banker und Investoren. In jenen Wochen nach dem 15. September 2008 glaubten viele Manager nicht mehr an das eigene Tun. Manche gaben zu, große Summen Bargeldes zu Hause zu verwahren, um Brot und Käse kaufen zu können, falls die Geldautomaten und Kreditkarten nicht mehr funktionierten. Zum Glück war diese Angst übertrieben. Trotzdem haben die Banken und Investoren mehrere tausend Milliarden Dollar verloren. Dieses Geld fehlt den Finanzinstituten nun, weshalb sie weniger Möglichkeiten haben, das große Rad zu drehen. Die Bremse wirkt auch deshalb, weil die Geschäftspartner mehr Eigenkapital der jeweils anderen Seite verlangen. Höheres Eigenkapital aber bedeutet: weniger Risiko, weniger Profit, mehr Sicherheit. Das Finanzsystem insgesamt dürfte nach der Krise stabiler sein als vorher.


Aus beidem – der Stärke der Politiker und der relativen Schwäche der Banker – kann eine neue neue Balance entstehen. Wenn, ja wenn, der alte Schlendrian nach einer Schamfrist nicht wieder einreißt. Leider gibt es genau dafür starke Indizien.


Verbriefungen von fragwürdigen Vermögenswerten sind beispielsweise schon wieder im Gange. Minderwertige Finanzprodukte hatten, über die ganze Welt verteilt, die Krise ausgelöst. Banken vor allem in den USA verdienten viel Geld damit, Immobilienkredite in Wertpapiere zu verpacken und weiter zu verkaufen. Vor ein paar Tagen nun wies die New York Times daraufhin, dass einige Institute ihre mehr oder weniger wertlosen Immobilien-Ramsch-Papiere erneut verpacken und veräußern. Morgan Stanley habe nach eigenen Angaben bereits wieder Scheine im Wert von 30 Milliarden Dollar unter die Leute gebracht.


Derartige Geschäfte können zum Auslöser der nächsten Krise werden, wenn die Regierungen und Bankenaufseher in Hongkong, New York, London und Frankfurt nicht einschreiten. Dass sie dies doch tun, ist ihre erklärte Absicht. Jedenfalls steht das in den Kommuniqués der mächtigsten Wirtschaftsnationen der G20-Gruppe. Auch Merkel und Steinbrück beschwören immer wieder den neuen Konsens: „kein Akteur, kein Produkt, kein Finanzplatz“ dürften ohne Kontrolle oder Aufsicht bleiben.


Viele, sinnvolle Ideen sind im Gespräch. Zu allererst geht es darum, die Institute zu politisch verpflichten, mehr eigenes Geld einzusetzen oder in Reserve zu halten. Das machte die Geschäfte teurer und die Banken vorsichtiger. Auch die Allgemeinheit würde von solchen Vorsichtsmaßnahmen profitieren. Wenn die Finanzinistitute über ausreichende Rücklagen verfügten, müsste der Staat das Geld der Steuerzahler nicht als Rettungskapital einsetzen.


Soweit die Theorie. Auf vielen Ebenen der europäischen und internationalen Politik wird darüber viel geredet. In der Praxis allerdings ist bislang kaum etwas passiert. Die Regulierung der Finanzmärkte, die Umsetzung des neuen Primats der Politik kommt nicht recht voran. Ein Schlaglicht auf diesen Missstand warfen am Montag die Reden, die Obama und sein Finanzminister Timothy Geithner anlässlich des Lehman-Jahrestages hielten. Die beiden sprachen mehr von ihren Plänen, als von ihren Taten.


Natürlich sind globale Verhandlungen zwischen Dutzenden Regierungen, Institutionen und Gremien eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Heute aber, ein Jahr nach dem Lehman-Crash, mehren sich die Zweifel an der Durchsetzungsfähigkeit und Durchsetzungswilligkeit der Politiker. Wenn nicht bald etwas passiert, erleben wir eine Renaissance des Primats der Wirtschaft und damit auch eine neue Krisenanfälligkeit der Ökonomie.

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