„Die Mittelschicht fühlt sich den Reichen näher als den Armen“
Sozialwissenschaftler Christoph Scherrer erklärt, welche Auswirkungen soziale Ungleichheit hat
20. Jan. 2015 –
Hannes Koch: Selbst reiche Staaten wie Deutschland verzeichnen eine zunehmende soziale Ungleichheit zwischen Normalbürgern und Reichen. Nehmen die politischen und ökonomischen Eliten, die sich jetzt wieder in Davos treffen, diese Entwicklung ernst?
Christoph Scherrer: Die Veranstalter haben das Thema immerhin auf die Tagesordnung gesetzt. Aber für viele Manager ist das Weltwirtschaftsforum in erster Linie eine Gelegenheit, Gleichgesinnte zu treffen und Geschäfte zu machen. Sie sind teilweise extrem privilegiert, weil sie die exorbitanten Einkommen von Dutzenden Millionen Euro jährlich beziehen, die ein wesentlicher Grund der seit den 1970er Jahren wieder anwachsenden Ungleichheit sind. Von diesen Leuten kann man nicht erwarten, dass sie ihre Privilegien freiwillig in Frage stellen oder aufgeben.
Koch: Sogar die Industrieländer-Organisation OECD analysiert inzwischen, dass die zunehmende Polarisierung negative Auswirkungen für das Wirtschaftswachstum habe. Ändert sich nicht etwas in der offiziellen Sicht?
Scherrer: In der praktischen Politik bislang kaum, höchstens auf theoretischer Ebene. Die Wissenschaftler der OECD errechneten, dass das Wachstum in Deutschland um rund sechs Prozent geringer war als möglich, weil sich der Abstand zwischen Armen und Reichen während der vergangenen 30 Jahre stark vergrößerte.
Koch: Wie ist es zu erklären, dass zu große Ungleichheit die Gesellschaft insgesamt Wohlstand kostet?
Scherrer: Im Gegensatz zu Wohlhabenden und Reichen, die einen Teil ihres Verdienstes sparen können, konsumieren ärmere Bevölkerungsschichten fast vollständig, was sie einnehmen. Sinken deren Einkommen, müssen sie den Konsum einschränken. Damit geht die Nachfrage zurück, und das Wachstum fällt geringer aus, als es bei einer ausgeglichenen Einkommensverteilung der Fall wäre. Das wirkt sich auch negativ auf die Steuereinnahmen und die Finanzkraft des Staates aus.
Koch: In Deutschland besitzen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung inzwischen über 50 Prozent der Vermögen, während die ärmere Hälfte der Bürger kaum Ersparnisse hat. Für 70 Prozent der Einwohner stagnierten oder sanken die Einkommen zwischen 2000 und 2011. Welche konkreten Konsequenzen hat dieser Prozess?
Scherrer: Für die Betroffenen bedeutet das Prekarisierung. Einerseits können sie sich wegen niedrigerer Einkommen oder Sozialtransfers weniger leisten. Viele müssen zudem mit kurzfristigen Arbeitsverträgen vorliebnehmen oder sind beispielsweise als Leiharbeiter beschäftigt. Diese Menschen haben ständig das Gefühl auf Probe zu sein. Sie müssen sich permanent bewähren. Sie stehen unter Stress. Und die Armut wird weitergetragen in die nächste Generation.
Koch: Wie funktioniert diese Vererbung von Armut?
Scherrer: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir erleben eine gewisse Privatisierung des öffentlichen Bildungssystems. Weil Kommunen sparen und Schulen deshalb weniger Mittel zur Verfügung haben, engagieren sich Elternvereine in der Finanzierung von Unterrichtsmaterial und Reisen. Familien mit Mittelschichtseinkommen können sich das eher leisten als Hartz-IV-Empfänger. Schulen in ärmeren Stadtteilen erleiden damit einen Nachteil – was sich negativ auf die Berufschancen der Schüler auswirkt.
Koch: In seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ schreibt der Ökonom Thomas Piketty, dass die Ungleichheit zwischen den Reichen und den Armen im 19. Jahrhundert sehr groß war, sich in den Industriestaaten aber trotzdem eine Mittelschicht der Ingenieure, Wissenschaftler, Unternehmer und Angestellten zu entwickeln begann. Selbst erhebliche Ungleichheit steht einem gewissen sozialen Fortschritt also nicht unbedingt im Wege?
Scherrer: Die Industrialisierung führte damals unter anderem in Europa dazu, dass durch Kapitaleinsatz und Arbeitsteilung effizienter gearbeitet wurde. Heute ist das in vielen Ländern ähnlich. Dadurch steigt insgesamt der Reichtum der Gesellschaften. Und aus diesem Mehrwert konnte und kann eine Mittelschicht finanziert werden. Ein größerer Teil des Nationaleinkommens wird auf mehr Bürger verteilt. Das stellt eine Demokratisierung von Wohlstand dar. Diese läuft allerdings nicht automatisch ab, sondern muss immer wieder politisch durchgesetzt werden. In den letzten Jahrzehnten gelang das weniger: Es mehren sich die Hinweise, dass die Mittelschicht beispielsweise in Deutschland unter Druck gerät und erodiert.
Koch: Auch China erlebt seit einigen Jahrzehnten den Prozess der Industrialisierung. Die soziale Polarisierung nimmt zu, die Armut hingegen ab. Ein vertretbarer Kompromiss?
Scherrer: Die Frage ist immer, welches Maß an Ungleichheit sozialverträglich und nötig ist. In China wäre ein dynamisches Wirtschaftswachstum sicherlich auch bei geringerer Ungleichheit möglich gewesen. Die Regierung könnte den Reichen und profitierenden Schichten deutlich mehr Steuern abverlangen und damit die soziale Spaltung verringern. Ebenso sieht es im Schwellenland Brasilien aus. Die Regierungen der dortigen Arbeiterpartei haben zwar wirksame Programme zur Förderung der Mittelschicht und Bekämpfung der Armut umgesetzt, in der Steuerpolitik aber versagten sie. Die Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen ist lächerlich gering.
Koch: Piketty empfiehlt höhere Steuern auf Kapital und Vermögen. Eine gute Idee?
Scherrer: Das ist ein möglicher Weg. Diese Forderung durchzusetzen, erscheint jedoch schwierig. Denn die Mittelschichten besitzen selbst Vermögen, beispielsweise Immobilien, und befürchten deshalb auch für sich höhere Steuern. Besser kann es deshalb sein, bei der Primärverteilung auf dem Arbeitsmarkt zu beginnen. Gegenwärtig gelingt es den Gewerkschaften in Deutschland, höhere Mindest- und Tariflöhne durchzusetzen. Lange Zeit war das nicht möglich oder wurde versäumt.
Koch: Warum kommt es heute in Staaten wie Deutschland trotz zunehmender Ungleichheit zu so wenigen großen, sozialen Konflikten?
Scherrer: Vorsicht, die Pegida-Demonstrationen speisen sich auch aus sozialen Abstiegsängsten. Trotzdem ist die breite Mittelschicht, die über die Hälfte der Bevölkerung umfasst, noch relativ stabil. Vielen Bürgern geht es vergleichsweise gut, sie besitzen ein gewisses Vermögen. Deshalb fühlen sie sich den Reichen näher als den Armen. Und den Prekarisierten fehlt eine wirksame politische Vertretung. Auch deshalb steht die ökonomische Elite, die sich in Davos trifft, so wenig unter Druck.
Bio-Kasten
Ökonom und Politologe Christoph Scherrer lehrt und forscht an der Uni Kassel. Sein Schwerpunkt ist Globalisierung. Gegenwärtig leitet er ein Forschungsprojekt über soziale Ungleichheit unter anderem in Südafrika und den USA.