Die neue Arbeitszeitverkürzung

Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft (Teil 4): In gut bezahlten Jobs sinkt die individuelle Arbeitszeit. Durch die neue Flexibilität könnten Erwerbslose bessere Einstiegschancen bekommen

Teilen!

Von Hannes Koch

04. Jan. 2010 –

Das Vorzimmer von Stefan Dräger ist verwaist. Beim Medizinhersteller in Lübeck ist die Büroleiterin des Firmenchefs länger im Urlaub. Die Gewerkschaft habe es so gewollt, sagt der Eigentümer ein wenig spöttisch. Nun muss er sich auch um die Sachen kümmern, die man sonst für ihn erledigt.


In vielen Unternehmen achten die Betriebsräte und Gewerkschaften zur Zeit darauf, dass die Beschäftigten zunächst die Überstunden abfeiern, die sie oft zu Hunderten auf ihren Arbeitszeitkonten angesammelt haben. Erst wenn die Arbeitszeitspeicher leer sind, will man über weitere krisenbedingte Sparmaßnahmen beim Personal beraten.


Entgegen landläufiger Meinung ist die ausgedehnte, staatlich geförderte Kurzarbeit nicht die alleinige Ursache dafür, dass im Zuge der Wirtschaftskrise in Deutschland bislang so wenige Arbeitsplätze verloren gegangen sind. „Drei Viertel des Effektes haben andere Ursachen“, sagt Ulrich Walwei, der Vizechef des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei der Bundesagentur für Arbeit. Der Wissenschaftler nennt unter anderem das Abschmelzen der Arbeitszeitkonten und die Arbeitszeitverkürzung aufgrund von Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen.


Der deutsche Arbeitsmarkt ist in den vergangenen Jahren erstaunlich flexibel geworden. „Die neue Debatte über Arbeitszeitverkürzung ist in vollem Gange“, sagt Gerhard Bosch, Professor für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Duisburg-Essen. Er verbindet damit nicht nur die Hoffnung, dass die Arbeit weniger stressig wird, sondern auch, dass sie auf mehr Menschen verteilt werden kann. Das könnte einigen der bislang Ausgeschlossenen neue Zugänge zum regulären Arbeitsmarkt eröffnen und die Erwerbslosigkeit in den kommenden Jahrzehnten reduzieren.


Ulrich Walwei ist da skeptischer. Er betrachtet die Verringerung der Arbeitszeit auch als vorübergehende Reaktion auf die Krise, weniger als neues Arbeitsmodell. „Wenn künftig gut ausgebildete Fachkräfte fehlen, weil nicht genug Junge nachrücken, wird die Arbeitszeit pro Kopf wieder zunehmen“, beschreibt Walwei die möglichen Folgen des demografischen Wandels. Der Mangel an Facharbeitern und Technikern ist selbst in der augenblicklichen Krise schon ein Problem für manche Firma. Sollte Walwei Recht behalten, dass bald weniger Leute mehr arbeiten, würde die Sphäre der gut dotierten Lohnarbeit künftig abgeschottet bleiben.


Derweil wächst der Niedriglohnsektor. Während 1995 noch 15 Prozent der Beschäftigten nur zwei Drittel des Durchschnittslohnes oder weniger erhielten, waren es 2006 bereits 22 Prozent. Wird sich Bereich ausdehnen, müssen bald mehr Menschen mit Stundenlöhnen von drei oder fünf Euro zurecht kommen? Die Antwort ist mitentscheidend dafür, ob die Marktwirtschaft das Adjektiv „sozial“ später noch verdient.


IAB-Forscher Walwei ist auch hier nicht optimistisch. „Das produzierende Gewerbe, das vergleichsweise gute Löhne zahlt, verliert tendenziell Arbeitsplätze. Demgegenüber wächst der Dienstleistungssektor, in dem die Bezahlung oft niedriger liegt“. Gleichwohl glaubt er, dass die Entwicklung gestaltbar sei. Der Staat könne den „Niedriglohnbereich sozialverträglicher machen“, indem dort die Sozialbeiträge und Steuern reduziert würden. Die Niedriglohnarbeiter hätten dann mehr Netto in der Tasche. Die Staat und die Sozialversicherung müsste die Einnahmeausfälle freilich durch höhere Beiträge für gutverdienende Beschäftigte oder ein geringeres Leistungsniveau ausgleichen.


Auch Gerhard Bosch betont den Spielraum der Politik. Ein „gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro in den westlichen Bundesländern und 7,00 Euro im Osten ist möglich“, so Bosch. Die Erfahrungen in Frankreich und anderen Staaten hätten gezeigt, dass dadurch im Saldo keine Arbeitsplätze verloren gingen. Bosch plädiert für ein „reformiertes Normalarbeitsverhältnis“ als Zukunftsmodell: Geringere Arbeitszeit dort, wo die Löhne gut sind, und Gesetze zum Schutz der Niedriglöhner, um die weitere Erosion des Arbeitsmarktes zu verhindern.



Kasten

Arbeitszeitverkürzung

Die Verkürzung der Arbeitszeit war ein großes Thema seit den 1980er Jahren. Im Vordergrund standen die Humanisierung der Arbeit und das Bestreben, das vorhandene Arbeitsvolumen auf mehr Menschen zu verteilen, um die Erwerbslosigkeit zu verringern. 1994 führte VW die 28,8-Stunden-Woche mit Teillohnausgleich ein, um 30.000 Stellen zu retten. 1995 erkämpfte die IG Metall die 35-Stunden-Woche. Nicht wenige Beschäftigte sahen diese Tendenz aber kritisch: Sie wollten ungerne weniger verdienen. Außerdem arbeiten inzwischen Millionen Beschäftigte für Niedriglöhne. Diese können sich kürzere Arbeitszeiten und noch weniger Geld schlicht nicht leisten.

« Zurück | Nachrichten »