Erfolg mit Startproblemen

100 Tage nach der Einführung des Mindestlohns gibt es nur wenige Beschwerden über Verstöße. Kontrolleure des Zolls drücken ein Auge zu.

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Von Hannes Koch

09. Apr. 2015 –

Der neue Mindestlohn in Deutschland scheint erfolgreich zu verlaufen, meinen viele Kenner des Arbeitsmarktes. „Ja, der Mindestlohn setzt sich durch“, sagt beispielsweise Reinhard Bispinck von der gewerkschaftsnahen Hans Böckler Stiftung. Schleswig-Holsteins Arbeitsminister Reinhard Meyer (SPD) sieht es ähnlich.

 

8,50 Euro pro Stunde – soviel sollen nun alle Arbeitnehmer erhalten, von Ausnahmen abgesehen. Am 1. Januar trat das Gesetz in Kraft. Die ersten 100 Tage sind vorbei – Zeit für eine erste Bilanz. Diese allerdings ist schwierig zu ziehen, denn wegen der kurzen Dauer gibt es bisher kaum Zahlen. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls kontrolliert die Firmen zwar, hat aber noch keine Statistik aufgestellt. Die Erfolgsmeldungen können daher nur auf Indizien beruhen.

 

Rund 3,7 Millionen Beschäftigte, die bisher weniger als 8,50 Euro bekamen, profitieren laut Bundesarbeitsministerium von der neuen Lohnuntergrenze. Ihre Löhne sollen steigen. Tun sie das nicht, stehen den Betroffenen Telefon-Hotlines beim Ministerium und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zur Verfügung. Die Beschwerden dort halten sich allerdings in Grenzen. Gut 9.000 Leute hätten seit Januar angerufen, sagt eine Sprecherin des DGB. Die meisten wollten sich allerdings nur informieren. Die Anteil der Beschwerden im Verhältnis zu den 3,7 Millionen liegt also in der Größenordnung von 0,1 Prozent. In einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des DGB sagten drei Prozent der Befragten, ihnen werde der Mindestlohn vorenthalten.

 

Vieles müsse sich erst „zurechtruckeln“, so Bispinck. Manche Betriebe verhandeln mit ihren Beschäftigten noch über die neuen Arbeitsverträge. Und die Kontrolleure des Zolls drücken ein Auge zu. Sie räumen den Firmen eine Übergangszeit ein. Jetzt ermahnt man sie nur, erst bei der nächsten Prüfung wird es ernst. Viele Fälle, in denen der Mindestlohn umgangen wird, entdeckt der Zoll anscheinend auf Baustellen, im Taxigewerbe und in der Fleischindustrie.

 

Unternehmen suchen und finden Schlupflöcher. Eine Variante sieht so aus: Die Arbeitnehmer bekommen neue Verträge mit gleicher Bezahlung wie vorher, aber niedrigerer Arbeitszeit. Auf dem Papier steigt die Bezahlung dann auf 8,50 Euro. Tatsächlich aber arbeiten die Beschäftigten genauso lange wie früher – und erhalten real auch nicht den Mindestlohn. Dies ist der Hintergrund des Streits über die sogenannten Dokumentationspflicht. Um Täuschungen zu erschweren, müssen die Unternehmen den Beginn und das Ende der Arbeitszeit, die Stundenzahl und die Entlohnung der Beschäftigten erfassen. Während Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und der DGB daran festhalten, kritisieren CSU und Wirtschaftsverbände die vermeintlich überflüssige Bürokratie.

 

Auch zu einem anderen beliebten Streitpunkt fehlen Daten: Führt der Mindestlohn dazu, dass hunderttausende Arbeitsplätze verlorengehen? Auf bis zu 900.000 hat der Münchner Ökonom Hans-Werner Sinn die möglichen Jobverluste beziffert. Begründung: Wenn die Arbeitnehmer zu teuer werden, schmeißen die Unternehmen sie raus.

 

Die Minijobzentrale in Essen, bei der geringfügig Beschäftigte unter anderem in Privathaushalten angemeldet sind, registrierte im Januar diesen Jahres rund 150.000 Minijobs weniger als saisonal üblich. „Ein Zusammenhang zum Mindestlohn ist zu vermuten“, aber nicht nachweisbar, heißt es. Unklar sei, ob die Minijobs einfach wegfallen, die Tätigkeiten in die Schwarzarbeit abwandern, oder die Arbeitnehmer bessere, komplett sozialversicherungspflichtige Stellen bekommen.

 

Belege für Jobverluste gibt es auch in anderen Branchen – allerdings nur in Form von Einzelbeispielen, systematische Untersuchungen fehlen. So werden Taxifahrer entlassen, die nicht die 8,50 Euro erwirtschaften. Manche Betreiber von Hotels und Gaststätten reduzieren ihr Angebot, um auf die teureren Niedriglöhner verzichten zu können. Ingesamt seien die Auswirkungen des Mindestlohn für die Zahl der Arbeitsplätze aber nicht dingfest zu machen, sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Es würden sich zu viele Entwicklungen überlagern, um eine davon isolieren zu können.

 

Angesichts der allgemeinen Lage am Arbeitsmarkt muss man sich jedoch keine Sorgen machen: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland geht weiter zurück. „6,4 Prozent liegen nahe an der Vollbeschäftigung“, heißt es beim DIW. Und die Zahl der Stellen wird wohl weiter zunehmen. Das bedeutet: Sollte der Mindestlohn Jobs kosten, gleicht die positive Wirtschaftsentwicklung diesen Verlust mehr als aus. Die Arbeit zu verlieren ist hart. Aber eine neue zu finden war lange nicht so einfach wie heute.

 

Info-Kasten

Mindestlohn und Inflation

Die neue Lohnuntergrenze von 8,50 Euro macht Arbeit teurer. Die Firmen können darauf reagieren, indem sie beispielweise die Arbeitszeit reduzieren und die Produktivität steigern, Leute entlassen, die Gewinnmarge verringern oder auch die Verkaufspreise anheben. Letzteres ist laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung vor allem im Taxigewerbe (acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr) und bei Chemischen Reinigungen (drei Prozent) zu beobachten. In den übrigen Niedriglohn-Branchen, unter anderem Gastronomie und Wachdienste, lägen die Preissteigerungen gegenwärtig bei moderaten zwei Prozent gegenüber 2014.

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