„Froh, dass ich überhaupt Arbeit habe“
Die Internet-Wirtschaft schafft neue Stellen, die aber oft schlecht entlohnt werden. Crowdworking-Plattformen bieten Jobs für zehntausende Heimarbeiter.
20. Apr. 2017 –
Karin Kneer (65) ist eine moderne Beschäftigte. Durchschnittlich verdient sie etwa drei Euro brutto pro Stunde. Das macht ungefähr 400 Euro pro Monat - mit einer Beschäftigung, die einem Vollzeitjob ähnelt.
Kneer arbeitet für die Internet-Plattform Crowd Guru. Die Firma sitzt in Berlin-Kreuzberg, Kneer wohnt im gut 500 Kilometer entfernten nordrhein-westfälischen Schalksmühle. Fast täglich meldet Kneer sich von zu Hause mit ihrem Computer auf der Internetseite von Crowd Guru an und arbeitet dann sechs bis sieben Stunden.
Ihre Tätigkeit besteht beispielsweise darin, Konsumgüter für Onlineshops zu kategorisieren. Auf ihrem Bildschirm erscheinen etwa zahlreiche Fotos von vermeintlichen Herrenhemden mit langem Arm. Sie muss dann die Produkte aussortieren, die nicht in diese Kategorie passen. Solche Arbeiten werden pro Vorgang mit einigen Cent bezahlt.
Es sind Tätigkeiten, die die neue Digitalwirtschaft hervorbringt – zusätzliche Jobs, die vorher oft nicht existierten. Die Fortschritte der Datentechnologie lassen ständig Geschäftsmodelle und Arbeitsformen entstehen, die die althergebrachte Ökonomie ergänzen, umformen und unterwandern. Nicht selten müssen die Arbeitnehmer mit sehr niedrigen Verdiensten und löchriger sozialer Absicherung zurechtkommen. Andererseits sitzen sie nicht mehr in einem Büro, eingebunden in eine Organisation, von Vorgesetzen kontrolliert, sondern können sich ihren Tagesablauf selbst einrichten. Jobs wie der, den Karin Kneer erledigt, halten manche Experten für Vorboten einer großen Umstrukturierung, die in den kommenden Jahrzehnten Millionen Arbeitsplätze auch in Deutschland verändern könnte.
„Die Bezahlung ist gering“, sagt Kneer. „Aber ich bin froh, dass ich überhaupt Arbeit habe.“ Ihre Einnahmen sind für sie ein Zuverdienst, der auf ihr Arbeitslosengeld II angerechnet wird. Dieses erhält sie, seitdem sie ihre Keramik-Werkstatt vor drei Jahren aufgeben musste. Ausgebeutet fühlt sie sich nicht. Als Vorteile ihrer aktuellen Tätigkeit betrachtet sie die „freie Zeiteinteilung und das Arbeiten zu Hause“.
Kneer ist eine Crowdworkerin. Dieser Begriff setzt sich zusammen aus den englischen Wörtern für „Menschenmenge“ und „Arbeit“. Hans Speidel (42), blaugestreifter Pulli, rötliche Haare, Stoppelbart, bietet diese Art der Beschäftigung an. Er ist Mitgründer von Crowd Guru und arbeitet im 3. Stockwerk eines alten Fabrikbaus am Spreeufer in Berlin. Sein Geschäftsmodell funktioniert grundsätzlich so: Ein anderes Unternehmen beauftragt Crowd Guru mit Tätigkeiten, die sich in zahlreiche kleine, identische Arbeitsschritte und Aufgaben zerlegen lassen. Diese Mikrojobs veröffentlicht die Berliner Firma auf ihrer Webseite. Die 50.000 dort angemeldeten Selbstständigen, die registrierten „Gurus“, können die Jobs anklicken. Wer sie vom heimischen Laptop aus erledigt, wird dafür bezahlt.
Die Gurus malen etwa Bilder von Straßenszenen aus, erklärt Speidel. Die Bordsteine werden beispielsweise immer rot, die Verkehrsschilder blau, Passanten orange und andere Autos grün. Zehntausende solcher Szenen dienen dann dazu, den Steuersystemen der automatisch fahrenden Pkw der Zukunft das nötige Wissen beizubringen. Auftraggeber könnte in diesem Fall ein Autokonzern sein oder ein Software-Entwickler, der für diesen arbeitet. Andere Tätigkeiten, die oft an selbstständige Internetarbeiter ausgelagert werden, sind das Testen von Smartphone-Programmen, die Texterstellung für Werbe-Webseiten oder das Überprüfen von Firmen- und Adressinformationen.
Wieviele Leute in Deutschland mittlerweile als Crowdworker arbeiten, ist schwierig zu schätzen – vielleicht gut 100.000. Die Marktführerin, die Firma Clickworker, gibt an, sie habe mehr als 800.000 Selbstständige registriert. Vermutlich verdienen aber viel weniger wirklich Geld. Dies legt die Einschätzung von Crowd Guru-Chef Speidel nahe. Er sagt, dass von seinen 50.000 Registrierten monatlich immer nur einige tausend parallel aktiv seien. Freilich wächst die Branche. Konzerne wie die Deutsche Telekom, Daimler, Audi und Sixt vergeben Aufträge an Plattformen. In den USA betreibt der Online-Händler Amazon seinen Crowdworking-Ableger „Mechanical Turk“.
Die Firma Crowd Guru ist kein Selbstläufer. Investoren müssen derzeit noch die Finanzierung sicherstellen. „Der Wettbewerb ist stark“, sagt Speidel, „mitunter sind unsere Preise jetzt schon zu hoch, um gegen die internationale Konkurrenz zu bestehen“. Dies spiegelt sich in den Honoraren der Gurus. „Der Durchschnittsverdienst beträgt etwa 100 Euro pro Monat. Topverdiener erreichen über 1.000 Euro. Aber das sind nicht viele“, so Speidel.
Die Bedingungen bei anderen Plattformen dürften ähnlich aussehen. Claudia Jakobsen* (57) und ihr Mann arbeiten unter anderem für die Firmen clickworker, testbirds und uTest. Im Durchschnitt erzielen sie einen Stundenlohn von etwa vier Euro brutto. Mit vier Stunden Arbeit pro Kopf und Tag erwirtschaften sie zusammen ungefähr 600 Euro brutto pro Monat. „Ich fühle mich halbwegs anständig bezahlt“, sagt Jakobsen dennoch. „Eine ganze Weile habe ich krankheitsbedingt ja gar kein Einkommen erzielt. Man wird bescheiden.“
543 Euro pro Monat betrage der Mittelwert der Crowdworking-Verdienste, ergab eine Studie im Auftrag der gewerkschaftlichen Hans Böckler Stiftung im vergangenen Jahr. Durchschnittlich 1.500 Euro verdienten diejenigen, die hauptsächlich von der Internetarbeit lebten. Wohlgemerkt handelt sich dabei um Brutto-Einkommen. Steuern und Sozialabgaben müssen die Beschäftigten meist vollständig selbst entrichten. Denn die Plattformen handeln als Vermittler, nicht als traditionelle Arbeitgeber, die einen Teil der Sozialversicherungskosten übernähmen. Sie folgen damit derselben Logik wie der Internet-Wohnungsvermittler Airbnb oder die Taxifirma Uber.
Die teilweise erstaunlich niedrigen Verdienste funktionieren nur, weil viele, vielleicht die meisten Crowdworker weitere Geldquellen anzapfen. Bei Karin Kneer ist es das Arbeitslosengeld. In anderen Fällen spielen Kinder- oder Wohngeld und Einkommen aus zusätzlichen Jobs eine Rolle. Dass Crowdworker bald überwiegend von ihrer Tätigkeit leben können, erscheint illusionär. Die acht größten einheimischen Firmen, darunter Crowd Guru und Clickworker, versprechen zwar eine Orientierung an „lokalen Lohnstandards“. Als Selbstständige haben die Auftragnehmer aber keine Möglichkeit, den Mindestlohn einzuklagen.
Schlecht sieht es auch mit der Sozialversicherung aus. Viele Web-Beschäftigte können sich gerade einmal die Krankenversicherung leisten. Für einen Beitrag zur Rentenversicherung reicht das Einkommen aber oft nicht. Die Industriegewerkschaft Metall fordert deshalb unter anderem, dass die Crowdworker in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. Dann stellt sich freilich die Frage, wer die Arbeitgeberanteile bezahlt. Die Plattformen, die Auftraggeber, der Staat? „Die Auftraggeber müssten die Honorare erhöhen“, sagt Crowdworkerin Kneer, „außerdem sollten sie ihren Teil zur Absicherung der Mitarbeiter beitragen. Heute stehlen sie sich aus der Verantwortung als Arbeitgeber davon.“
Eine Ausnahme existiert jedoch. Das Unternehmen content.de im nordrhein-westfälischen Herford entrichtet für ihre Autoren Beiträge an die Künstlersozialkasse. Seit 1983 steht diese Musikern, Bildenden Künstlern, Dichtern, Journalisten und andere Kreativen offen. Die Selbstständigen zahlen die eine Hälfte der Sozialbeiträge. 20 Prozent tragen der Bund und 30 Prozent die Medienfirmen. Einer, der von diesem Modell profitiert, ist Stephan Gerhard (54). Als Texter arbeitet er oft für content.de. Dort erzielt er ein schwankendes Einkommen, das zwischen 20 und 70 Prozent seiner Monatseinnahmen ausmacht. Insgesamt erwirtschaftet er etwa 2.000 Euro brutto, von denen ungefähr 1.500 Euro netto übrigbleiben.
Damit gehört Gerhard zu den wenigen einigermaßen verdienenden und leidlich abgesicherten Crowdworkern. „Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden“, sagt er. Doch selbst er nennt als Nachteile die „fehlende Sicherheit der Einnahmen“ und den „recht überschaubaren Verdienst, der für eine Person zum Leben reicht, aber nicht für viel mehr“.
*Name geändert