• Christian Kandlbauer konnte dank Armprothesen seinen Führerschein machen.
    Bild: Otto Bock HealthCare GmbH

Gedanken steuern die Prothese

Mit der Kraft des Denkens bewegt der 22jährige Christian Kandlbauer seinen Kunstarm. Nach einer beidseitigen Amputation kann er nun wieder Autofahren

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Von Hannes Koch

13. Nov. 2009 –

An seinen Unfall kann und will Christian Kandlbauer sich nicht erinnern. Im September 2005 verlor der Mechaniker-Lehrling beide Arme durch einen Stromschlag mit 20.000 Volt. Sein Leben änderte sich radikal, als Schwerbehinderter war Kandlbauer fortan auf Hilfe nicht nur beim Essen und Trinken angewiesen. Jetzt aber normalisiert sich der Alltag des 22-Jährigen allmählich wieder. An der Stelle seines amputierten linken Schultergelenkes und am rechten Armstumpf sitzen nun zwei Hightech-Prothesen.

 

Kürzlich absolvierte der junge Österreicher seine Führerschein-Prüfung. „Ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Ein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Jetzt kann ich alleine wegfahren und kann bleiben so lange ich will“, sagte Kandlbauer gegenüber dieser Zeitung. Um zu demonstrieren, wie gut seine neuen Armen funktionieren, setzte er sich gestern in Berlin ans Steuer des eigens für ihn umgebauten Wagens.

 

Die weltweit in dieser Art einmalige Leistung der Mediziner und Prothesen-Techniker besteht darin, dass Kandlbauer die komplexe Apparatur aus Metall, Chips und Drähten, die seinen natürlichen linken Arm ersetzt, mit Gedanken steuert. Um das zu ermöglichen, haben die Ärzte die gekappten Nerven in einer aufwendigen Operation mit Kandlbauers Brustmuskeln verbunden. Wenn der junge Mann zugreifen will, sendet das Hirn via Muskel einen schwachen Stromimplus, den Sensoren an den Kunstarm weiterleiten. Das unglaubliche Ergebnis: Durch Gedankenkraft bewegt sich der Maschinenarm.

 

„Am Anfang habe ich schon etwas mehr Zeit gebraucht“, so Kandlbauer, „aber im Grunde ist alles eine Frage der Übung. Jetzt geht vieles schon schneller“. Auch beim rechten Kunstarm, den er mit den verbliebenen Muskeln seines Armstumpfes steuert.

 

Entwickelt wurden Kandlbauers Ersatzarme von der Firma Otto Bock in Duderstadt. Unter anderem mit Prothesen für Arme und Beine, die Science-Fiction-Träume über die Symbiose aus Mensch und Maschine plötzlich sehr real erscheinen lassen, ist das Familienunternehmen in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Weltmarktführer aufgestiegen.

 

Um Holzbeine an die Kriegsinvaliden zu verkaufen, die zu Hunderttausenden aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrten, gründete Otto Bock das Unternehmen 1919 in Berlin. Mittlerweile erzielt die Firma mit rund 4.400 Beschäftigten einen Umsatz von rund 582 Millionen Euro (2008). Weit über die Hälfte der Produkte gehen in den Export.   

 

Hans Georg Näder (48), der den Familienbetrieb in dritter Generation leitet, ist ein gutes Beispiel für die neuen, unorthodoxen Unternehmer, die in der deutschen Wirtschaft immer häufiger anzutreffen sind. Als er 28 Jahre alt war, holte ihn sein Vater aus dem Universitätsstudium heraus und übergab ihm die Firma. Seitdem praktiziert Näder eine unkonventionelle, gleichwohl höchst erfolgreiche Mischung aus patriarchal-sozialer Unternehmensführung, technischer Pionierleistung und betriebswirtschaftlichem Weitblick. 

 

In bester Lage Berlins, zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor, hat Näder kürzlich ein erstaunliches Gebäude errichten lassen. Die weiße Fassade der Otto-Bock-Repräsentanz – am Freitag Ort des Kandlbauer-Events -  ist mit ihren geschwungenen Linien den Muskelfasern im menschlichen Körper nachempfunden. Im Inneren befindet sich eine öffentliche Ausstellung über die Mobilität des menschlichen Körpers, die in den wenigen Monaten ihres Bestehens Zehntausende Touristen angezogen hat.

 

Wozu aber braucht ein mittelständiger Prothesenhersteller aus der deutschen Provinz ein eigenes Museum in der Hauptstadt? Der Eigentümer liefert diese Begründung: „Um die potenziellen Kunden anzusprechen, wollen wir die Marke `Otto Bock` sichtbar machen“. Bislang ist Werbung für Körper-Ersatzteile, wie Näder sie herstellt, in Deutschland eher unüblich. Das hängt mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung zusammen, die den meisten Bürgern eine gute, umfangreiche Versorgung finanziert und gleichzeitig den Medizin-Herstellern garantierte Absatzmärkte bietet.

 

Dieses abgesicherte Geben und Nehmen zum gegenseitigen Vorteil aber könnte in den kommenden Jahrzehnten in den Hintergrund treten, nimmt der Unternehmer an. Näder schätzt, die wachsende Zahl älterer Menschen und die damit steigenden Kosten im Gesundheitswesen würden dazu führen, dass die Bürger später mehr und mehr Leistungen selbst bezahlen müssten.

 

Die Entwicklung dürfte auch am Markt für Otto Bocks Hightech-Prothesen nicht spurlos vorbei. Schon heute kostet ein C-Leg, ein computergesteuertes Prothesenbein neuester Generation, rund 23.000 Euro. Und der Forschungsaufwand für Kandlbauers Ersatzarme betrug mehrere Millionen. Einen Preis für die alltaugstaugliche Variante will das Unternehmen noch gar nicht nennen.

 

Wenn die Krankenkassen künftig sparsamer agierten, könnten Näders Mobilitätshilfen schnell zum Luxusgut avancieren, das sich nur die Betuchten leisten würden. Und da kann es ratsam sein, schon heute an der Marken-Botschaft zu feilen. So betrachtet, ist Otto Bocks Repräsentanz in der Hauptstadt der frühe Vorposten einer sozial stärker polarisierten Gesellschaft.

 

Medizinische Prothesen als Image- und Lifestyle-Produkt, die nur einer wohlhabenden Schicht höheren Lebensstandard ermöglichen – muss es so kommen? Das ist die eine Variante. Noch ist aber auch die Alternative möglich – ein Gesundheitssystem, das allen Bürgern eine ausgewogene Versorgung garantiert. In welche Richtung die Entwicklung läuft, hängt davon ab, welchen Anteil ihres Wohlstandes die Gesellschaft bereit ist, in die soziale Sicherung zu investieren. Wer dem 22jährigen Christian Kandlbauer zugesehen hat, ist schnell überzeugt, dass auch hohe Kosten gerechtfertigt sind.

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