• Verfassungsklägerin Marianne Grimmenstein |Foto: Schütz, change.org
    Verfassungsklägerin Marianne Grimmenstein |Foto: Schütz, change.org

„Ich bin ein freies Elektron“?

Eine Querflötenlehrerin organisiert die größte Klage – gegen das Freihandelsabkommen Ceta

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Von Hannes Koch

18. Apr. 2016 –

Als Marianne Grimmenstein ihre Arbeit von Monaten in einem braunen Karton durch Berlin trägt, wartet Brigitte Zypries mit Kaffee auf sie. Im Bundeswirtschaftsministerium treffen sich die beiden Frauen zum Gespräch. Im Karton, den Marianne Grimmenstein der Staatssekretärin und ehemaligen Justizministerin der SPD mitbringt, sind Listen mit insgesamt 163.000 Unterschriften.?

 

Diese 163.000 Menschen fordern, dass der TTIP-Leseraum im

Wirtschaftsministerium für alle Bürger geöffnet wird. Bisher sind die

Akten darin nur den Bundestagsabgeordneten zugänglich – und die dürfen

darüber öffentlich nichts erzählen.?

 

Als die beiden Frauen gemeinsam Kaffee trinken, sagt Zypries zu

Grimmenstein, dass es bei dieser Praxis bleiben wird.?

 

Trotzdem: Eine derartige Beachtung seitens der Bundesregierung ist neu

für Marianne Grimmenstein. Politisch hat sie kaum Erfahrung; eigentlich

ist sie Querflötenlehrerin. Ihr größter politischer Erfolg bestand

bisher darin, dass sie den geplanten Umzug der Volkshochschule in ihrer

nordrhein-westfälischen Heimatstadt Lüdenscheid in ein

heruntergekommenes Gebäude im Außenbezirk verhindern konnte.?

 

Vor einiger Zeit jedoch meldete sich die Kampagnen-Organisation

change.org bei ihr. Grimmenstein hatte vor zwei Jahren eine

Verfassungsbeschwerde gegen die geplanten Freihandelsabkommen Ceta und

TTIP formuliert und sie zusammen mit 230 anderen Bürgern beim

Bundesverfassungsgericht eingereicht. Sie war damit aus formalen Gründen

gescheitert. Über change.org konnte sie nun nicht nur Unterschriften,

sondern auch Geld sammeln, um einen erfahrenen Juristen zu bezahlen, der

eine Verfassungsbeschwerde schreibt, die den Karlsruher Anforderungen

gerecht wird. Sie fand ihn im Bielefelder Rechtsprofessor Andreas Fisahn.?

 

TTIP und Ceta sollen den transatlantischen Handel erleichtern, TTIP

zwischen der EU und den USA, Ceta zwischen der EU und Kanada, indem

Zölle abgeschafft und Normen angeglichen werden. Kritiker wie

Grimmenstein befürchten, dass durch diese Abkommen die Herrschaft der

Wirtschaft über das normale Leben zunimmt.?

 

Ceta ist bereits ausgehandelt, der Text veröffentlicht. Demnächst müssen

der Europäische Rat und das Europäische Parlament darüber entscheiden.

Die Verhandlungen über TTIP sind dagegen noch im Gange. In Kürze findet

die offiziell vorletzte, im Sommer dann die angeblich letzte

Verhandlungsrunde statt. Sehr wahrscheinlich aber wird der Vertrag mit

den USA so schnell nicht beschlossen. Denn dort finden im Winter die

Präsidentschaftswahlen statt, die die Verhandlungen vermutlich ins

nächste Jahr verlängern. Und in Europa gibt es inzwischen jede Menge

Gegenwehr. Wenn US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela

Merkel am kommenden Wochenende die Hannover-Messe eröffnen, werden dort

einige zehntausend Leute gegen die Abkommen demonstrieren.?

 

Einen Tag, bevor sie Zypries ihre gesammelten Unterschriften überreichen

wird, sitzt Grimmenstein im Büro von change.org in Berlin, und schaut

über die Dächer der Hauptstadt. Sie ist 69 Jahre alt, aber sie wirkt

jünger. Ihre Stimme ist hell und fröhlich.?

 

40 Jahre lang hat sie an der öffentlichen Musikschule in Lüdenscheid

Querflöte unterrichtet – Mozart und Jazz. Mit leichtem

südosteuropäischem Akzent erzählt sie, dass sie 1968 von Budapest nach

Deutschland übersiedelte. „Der Liebe wegen.“ Sie legt ihrem Mann, der

neben ihr sitzt, die Hand aufs Knie.?

 

Mittlerweile ist Grimmenstein in Rente. Auf Honorarbasis kümmert sie

sich noch um zehn Musikschüler. Deswegen hat sie nun Zeit, ihr

rechtswissenschaftliches Verständnis praktisch anzuwenden. Ihr Vater und

ihr Großvater waren Juristen. „Zuhause wurde immer viel über Recht und

Politik gesprochen.“ Ein Urgroßvater saß im ungarischen Parlament. „Er

war ein feuriger Abgeordneter“. Die Urenkelin lacht laut. „Wir haben

seine Reden gelesen.“?

 

Mit Hilfe von change.org hat Grimmenstein nun zwei Petitionen im Rennen.

Mit ihrer zweiten Unterschriften-Aktion mobilisiert die Aktivistin für

ihre Verfassungsbeschwerde gegen das Europa-Kanada-Abkommen Ceta. Es ist

die größte Bürgerklage in der deutschen Geschichte: 50.000 Vollmachten

hat Grimmenstein bislang von Bürgern erhalten, die ihr Ansinnen

unterstützen. „Wahrscheinlich weitere 20.000 liegen noch in den

ungeöffneten Postsäcken bei mir zuhause“, sagt sie. Der Postbote kommt

inzwischen nicht mehr mit dem Fahrrad zu ihr, sondern hat sich einen

Kleintransporter besorgt.?

 

Der Rechtsprofessor Andreas Fisahn will die Klage beim

Bundesverfassungsgericht einreichen, sobald eine deutsche Fassung des

Ceta-Vertrages vorliegt. Wann das ist, ist noch unklar.?

 

Grimmenstein sagt, sie stürzt sich so in die Sache, weil sie sich um die

Zukunft ihres achtjährigen Enkelkindes sorgt. „Das westliche System ist

kein Erfolg“, sagt sie. „Die Wirtschaft zerstört die Umwelt weltweit,

und die bestehenden Gesetze hindern sie nicht daran.“ Wenn der

TTIP-Vertrag in Kraft träte, könnte durch die Angleichung der Normen das

europäische Prinzip der Vorsorge gegen Umweltschäden ausgehebelt werden,

sagt sie. „Die Politik muss über der Wirtschaft stehen. Das menschliche

Leben besteht nicht nur aus Warenaustausch.“?

 

Außerdem will sie nicht einsehen, warum die Freihandelsabkommen das

Recht der Unternehmen verbriefen sollen, Regierungen vor speziellen

Gerichtshöfen zu verklagen.?

 

Die EU-Kommission ist den KritikerInnen zwar inzwischen

entgegengekommen. Statt privater Schiedskommissionen soll es künftig

öffentliche Handelsgerichte geben. Die Ceta- und TTIP-GegnerInnen fragen

sich trotzdem: Warum wird den Konzernen ein neuer Rechtsweg eröffnet?

Was ist so schlecht an den Verwaltungsgerichten, die auch den Bürgern

reichen müssen??

 

Als Linke versteht sich Grimmenstein dabei nicht. „Ich bin ein freies

Elektron.“ Würde sie auch die Zusammenarbeit mit Rechten und

Rechtspopulisten in Kauf nehmen? „Jeder Bürger kann einer

Verfassungsbeschwerde beitreten“, sagt sie. „Ich bin keine politische

Sortieranlage.“?

 

Angespornt von ihrem Erfolg denkt die Aktivistin schon weiter. Zur

Bundestagswahl 2017 möchte Marianne Grimmenstein mit einer Liste

unabhängiger Kandidaten antreten, die keiner Partei angehören. Sie

selbst will aber nicht kandidieren. Ihr Talent bestehe eher darin, Leute

zusammenzubringen, sagt sie.?

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