Ich brauche das Geld nicht

Kommentar zu Armutsbericht und Wirtschaftslage

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Von Hannes Koch

13. Apr. 2017 –

Der Mitte der Gesellschaft geht es ökonomisch gut. Deutschland hat ein paar Probleme, ja. Dass aber die Mittelschicht auf dem Zahnfleisch kriechen würde, gehört derzeit nicht dazu. Rund 44 Millionen Arbeitsplätze, Tendenz steigend, zunehmende Löhne: So dürfte es vorläufig weitergehen, haben am Mittwoch die Wirtschaftsforscher erläutert. Die Gegenseite beschreibt der Armuts- und Reichtumsbericht, den das Bundeskabinett am selben Tag beschloss. Dort sind einige der wirklichen Probleme verzeichnet.

Wer zu den 40 Prozent der Bevölkerung mit niedrigen Einkommen gehört, verdient in vielen Fällen weniger als vor 20 Jahren. Ein beunruhigender Befund, der zeigt, wie sich die bundesdeutsche Gesellschaft auseinanderentwickelt. Viele der Erwerbstätigen, auf die diese Analyse zutrifft, dürften sich zu Recht abgehängt oder deklassiert fühlen. Zwar können sie in den allermeisten Fällen ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Jedoch sind sie ausgeschlossen vom allgemeinen Wachstumsprozess. So gilt hier die Einschätzung des US-Philosophen John Rawls, demzufolge eine Gesellschaft dann ungerecht ist, wenn die am schlechtesten Gestellten nicht wenigstens etwas vom allgemeinen Fortschritt profitieren.

Derweil schmiedet CDU-Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble eine Wahlkampfbotschaft, indem er vor allem der Mittelschicht Steuererleichterungen verspricht. Er will den sogenannten Mittelstandsbauch abschmelzen. Seine Analyse: Derzeit erzielt der Staat Überschüsse. Er könne auf einige Steuer-Milliarden verzichten, die die Bürger bisher zahlen.

An dem Problem der sozialen Spreizung, die den Zusammenhalt der Gesellschaft in Frage stellt, würde das aber nichts ändern. Leute mit niedrigen Einkommen zahlen kaum Steuern. Die könnte die Regierung unterstützen, indem sie die Sozialbeiträge reduziert, die derzeit auch für kleine Verdienste in voller Höhe fällig sind. Ein weiterer Weg bestünde darin, den Niedriglohnsektor einzuhegen und beispielsweise die Befristung von Arbeitsplätzen zu erschweren. Solche Reformen mögen manchen Unternehmen und liberalen Ökonomen missfallen. Sie laufen auch einer Entwicklung zuwider, die in vielen der reichen Staaten zu beobachten ist. Wer jedoch gesellschaftliche Spannungen reduzieren will, muss hier ansetzen.

Und wenn Bund, Länder und Gemeinden in den kommenden Jahren wirklich Geld übrig haben, gibt es genug öffentliche Aufgaben, denen sich die Politik zuwenden kann. Eine bürgernahe Verwaltung gehört dazu. Wer auf dem Land 50 Kilometer bis zum nächsten Außenposten des Staates fahren muss, um einen Personalausweis oder Führerschein beantragen, beginnt vielleicht an der Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens zu zweifeln. Dass in Landkreisen mit 100 Kilometer Durchmesser nur noch drei Streifenwagen der Polizei unterwegs sind, trägt nicht zum Sicherheitsempfinden der Bevölkerung bei. Und Schulen scheitern an ihrem Bildungsauftrag, wenn eine Lehrerin 35 Jugendliche domestizieren soll.

Entlastung der Mittelschicht? Wahrscheinlich wird sich das nicht verhindern lassen, weil die Union es ebenso will wie die SPD. Und eine von beiden Parteien wird auf jeden Fall ab Oktober 2017 in der neuen Regierung sitzen, vielleicht auch wieder beide zusammen. Aber prioritär ist die Steuerreform für die Mittelschicht nicht. Warum soll man Leuten zusätzliches Geld geben, denen es gut geht? Ich brauche es nicht.

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