„Japan hat die Wachstumsphase hinter sich“

In Europa herrscht Angst vor Stagnation und Deflation. Aber Japan lebt schon lange damit. Wie geht es dem asiatischen Land, das am Sonntag wählt?

Teilen!

Von Hannes Koch

12. Dez. 2014 –

Die ökonomische Lage in Europa ist nicht einfach. Die Wirtschaft der 28 Staaten wächst insgesamt nur wenig. Die Angst vor der Deflation nimmt zu. Währenddessen lebt Japan seit Jahrzehnten in einer vergleichbaren Situation. Wie kommt die asiatische Wirtschaftsmacht damit zurecht?

 

24 Jahre nach dem Platzen ihrer großen Immobilien- und Finanzblase gehen die Japaner an diesem Sonntag wieder einmal wählen. Sie entscheiden auch über die Wirtschaftspolitik von Premier Shinzo Abe. Unter anderem mit höherer Staatsverschuldung will der konservative Politiker sein Land auf den Wachstumspfad zurückführen. Augenblicklich allerdings vergeblich: Die Wirtschaftsleistung schrumpft erneut.

 

So war es schon mehrmals während der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte. Auf kurze Aufschwünge folgte bald wieder die Erschöpfung. Im Durchschnitt der Jahre 1990 bis 2013 betrug das Wirtschaftswachstum nur 1,2 Prozent. Erstaunlich ist allerdings, dass die Arbeitslosigkeit in dieser Zeit nicht stark stieg. Höchstens erreichte sie einmal 5,4 Prozent (2002). Meist blieb sie jedoch unter fünf Prozent. Im Oktober diesen Jahres waren offiziell nur 3,5 Prozent der Erwerbspersonen ohne bezahlte Stelle. Wie passt das zusammen?

 

Auch „ohne oder mit nur geringem Wachstum bleibt die japanische Gesellschaft stabil“, sagt Volkswirtin Mechthild Schrooten von der Hochschule Bremen. „Das asiatische Land ist schon in der Postwachstumsphase angekommen.“ Diese Einschätzung basiert auf eigener Anschauung: 2005/6 arbeitete sie ein Jahr als Professorin für europäische Wirtschaft in Tokio. Dass die Arbeitslosigkeit auch nach zwei Jahrzehnten Beinahe-Stagnation niedrig ist, begründet Schrooten mit den „impliziten Spielregeln, die in der japanischen Kultur verwurzelt sind“. Dazu gehöre beispielsweise, dass viele Unternehmen ihr Personal auch in Krisenzeiten halten. Der allgemein akzeptierte „Gesellschaftsvertrag“ verbiete es, „einzelne Menschen ins Bodenlose fallen zu lassen“.

 

In Japan würden wirtschaftlicher Erfolg und Konsum im Übrigen nicht nur als Selbstzweck betrachtet. Deshalb ertrage es die Gesellschaft, wenn das materielle Niveau kaum noch steige, so Schrooten. Dabei spielt auch eine Rolle, dass Japan zu den reichsten Staaten der Welt gehört. Angaben der Industrieländer-Organisation OECD zufolge lag das Brutto-Nationaleinkommen pro Kopf in Japan 2010 bei knapp 26.000 Euro. Zum Vergleich: In Griechenland waren es 21.000 Euro, in Portugal 18.500 und in Polen 14.000 Euro. Zwar sind Deutschland, Belgien oder Finnland noch etwas reicher als Japan, aber die Europäische Union hat stark mit Verteilungsproblemen zu kämpfen. Viele Einwohner der ärmeren Staaten fordern massive Umverteilung. Insofern kann das reiche Japan mit seinem relativ ausgeglichenen Wohlstand augenblicklich kein Modell für Europa sein.

 

Und Sierk Horn, Professor für die Wirtschaft Japans an der Universität München, weist eher auf die Spannungen hin. „Die vergleichsweise geringe Arbeitslosigkeit lässt sich zum Teil damit erklären, dass viele ältere Beschäftigte in den Ruhestand gehen. Japanische Unternehmen sind heute sehr viel strikter in der Anwendung von Ruhestandsregelungen. Das ermöglicht die Ausdünnung der Belegschaft,” so Horn. Außerdem nehme der Druck auf Leistung und Arbeitskosten zu. „Manche Firmen beschäftigen jetzt flexible und billigere Leiharbeiter“, sagt der Ökonom, „die Teilzeitarbeit ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen.“ Und trotz der relativ egalitären Gesellschaftsstruktur werde die Armut ein großes Thema. „Man sieht erstaunlich viele Obdachlose auf den Straßen. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich,“ so Horn.

 

Ein weiterer Preis der Beinahe-Stagnation ist die horrende öffentliche Verschuldung. Gegenwärtig liegt sie bei etwa 240 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 78 Prozent. Und die Wirtschaftspolitik von Premierminister Abe, die sogenannten „Abenomics“, tragen dazu bei, dass die Schulden weiter steigen. Denn mehr geborgtes Geld soll die Nachfrage erhöhen, die Deflationsgefahr beseitigen und die Wirtschaft ankurbeln.

 

Was aber, wenn das nicht klappt, die japanische Wirtschaft in der Stagnation verharrt und der Staat trotzdem seine wachsenden Kredite finanzieren muss? „Auch eine wesentlich höhere Staatsverschuldung wäre für Japan kein Problem“, meint Ökonomin Schrooten. Der gesellschaftliche Konsens sehe so aus: „Wer Geld hat, kauft Staatsanleihen der eigenen Regierung, selbst bei niedrigen Zinsen.“ Das sei die allgemein akzeptierte Gegenleistung der Bürger und Firmen dafür, dass die Steuern so niedrig lägen.

 

Nicht alle sind so optimistisch. Unter Ökonomen macht inzwischen der Begriff „Abegeddon“ die Runde – eine Kombination aus dem Namen des Premiers und „Armageddon“, der biblischen Schlacht am Ende der Welt. In dieser Sichtweise ist eine Kombination aus Staatsbankrott und tiefer Wirtschaftskrise nicht unwahrscheinlich. Ob Japan mit seiner Stagnation weiterhin zurechtkommt, wird sich zeigen.

« Zurück | Nachrichten »