Nicht vor und nicht zurück
Charles ist aus Ghana nach Berlin emigriert, Sadam zu Hause geblieben. Beide stecken in der Sackgasse. Eine Geschichte über das Missverständnis der Auswanderung.
22. Mär. 2019 –
Hier in der Nähe schläft er. Genau will er die Stelle nicht zeigen, zur
Sicherheit. Nur so viel: Der Platz liegt in einem Gebüsch, sodass man
ihn von außen nicht sehen kann.
Treptower Park an der Spree – ein Landschaftspark in Berlin mit hohen
Eichen, Platanen, Buchen, Blumenbeeten und ausgedehnten Wiesen,
südöstlich von Kreuzberg. Bei seinen afrikanischen Freunden holt Charles
das blaue Einpersonenzelt ab. Wenn er das provisorische Heim errichtet
hat, packt er seinen Schlafsack hinein.
Manchmal feiert er durch im Yaam-Club, wo HipHop, Reggae oder Afrobeat
laufen. Oder er übernachtet bei Kumpels, aber immer nur für ein paar
Tage. Sie haben Angst, dass der Gast auffällt.
Charles ist 22 Jahre alt, Immigrant aus Ghana, seit 2015 in Berlin. Sein
unstetes Leben sieht man ihm nicht an. Er trägt ein dunkelblaues Hemd
mit weißen Punkten, modisch am Knie zerrissene Jeans, Silberkette, weiße
Kopfhörer um den Nacken, Ohrring, dünnen schwarzen Schnäuzer mit
Kinnbärtchen. Er wirkt jugendlich, was auch an seiner Körpergröße von
1,65 Meter liegt.
Viel Zeit hat er dieses Jahr im Görlitzer Park in Kreuzberg zugebracht.
Dort feiern junge Touristen, spielen Musiker, bringen Papis ihren
Kleinen die ersten Schritte bei. Und der Drogenhandel boomt. Die
Sozialarbeiter im Park berichten, dass die Plätze genau aufgeteilt sind
– Nigerianer, die Leute aus der Elfenbeinküste oder Mali, alle haben sie
ihre festen Bereiche. Jeder Eingang ist besetzt. Wer den Park betritt,
muss sich darauf einstellen, angequatscht zu werden.
Will man Charles treffen, muss man zu den jungen Männern aus Ghana. Ihr
Revier liegt in der Nähe eines Hügels mit Sitzterrassen. Guter Überblick
über die Szene. Charles wartet schon, neben sich eine prall gefüllte
blau-weiße Plastiktüte von Aldi. Er ist genervt. „Ich habe kein Geld für
so was“, sagt er auf Englisch. Eigentlich könne sich sein alter Freund
Sadam in der gemeinsamen Heimatstadt Accra solche Klamotten auch selbst
kaufen. „Aber er will welche von hier.“ Also gab er bei Charles die
Bestellung auf. Textilien aus Europa sind besser, toller, schicker als
die vom heimischen Markt. Charles verdreht die Augen. Zwei Jeans in der
Tüte tragen Etiketten, die Adidas-Sportschuhe sind gebraucht. Die
übrigen Kleider stammen aus Charles persönlichem Vorrat. „Sie sehen noch
neu aus“, meint er.
Zu Hause packe ich den Inhalt in eine gebrauchte Sporttasche, die beiden
Jeans und die Schuhe kommen nach oben. Die Tasche reist mit mir in die
Hauptstadt Ghanas, zu Sadam.
Zongo Junction, Accra. Hier kreuzen sich zwei Verkehrsadern, als
Mitteleuropäer braucht man starke Nerven. Auf der Mittelinsel schreit
und stöhnt sich ein christlicher Prediger in Ekstase, sein überdrehter
Lautsprecher produziert einen Höllenlärm. In Viererreihen blockieren
sich Taxis und Kleinbusse, permanentes Gehupe und Geschimpfe hilft
bedingt. Dazwischen bieten Kleinhändler Plastiktütchen mit Trinkwasser
an, Frauen bugsieren gebratenen Fisch in Eimern auf den Köpfen.
Überladene Laster mit Holzkohlesäcken dröhnen vorbei.
Zur Begrüßung nimmt Sadam die Plastiksonnenbrille mit dem Versace-Logo
ab – „so you see my face“, „damit du mein Gesicht siehst“. Breite Augen,
breites Lächeln, Trägershirt über trainiertem Body, Jogginghose, links
zwei goldene Ohrstecher. Er hat einen Freund mitgebracht, der von nun an
die Tasche aus Europa tragen wird – ohne sie zu öffnen.
„Sadam und ich waren wie Brüder“, sagt Charles. Vielleicht zehn Jahre
haben sie zwei Minuten voneinander entfernt gelebt. Die meiste Zeit
waren sie zusammen, zum Essen in den Familien, auf den Straßen des
Viertels.
Sadams Zuhause ist ein kleiner Hof, einstöckige Steingebäude umringen
ein betoniertes Rechteck. Von den ärmlichen Bretterhütten in der
Nachbarschaft hebt es sich positiv ab. Hier leben auch seine Eltern,
seine beiden jüngeren Brüder und seine Schwester mit ihrer Familie.
Wäsche hängt auf den Leinen. An der Rückseite des Vaterhauses liegt der
Kuhstall, aber er steht leer. Auch Charles war Hirte. Tagsüber führten
die beiden die Tiere zusammen auf die Brachflächen zwischen die
Siedlungen entlang des Kanals. Waren die Kühe groß genug, wurden sie zum
Schlachten verkauft.
Das hat Charles zurückgelassen. 2015 ging er auf die Reise So sagen das
auch andere Ghanaer: Reise – nicht Flucht oder Emigration. Er verkaufte
eine goldene Kette seines Vaters, seine Familie gab ihm Geld, mit etwa
2.000?Euro brach er auf. Er flog nach Istanbul – ganz legal. In der
Türkei schloss er sich dem Treck der Syrer über die Balkanroute an.
Schließlich das gelobte Deutschland.
„Jeder in Ghana will eigentlich weg“
Mir gehen die Dealer im Görlitzer Park auf den Wecker. Wenn ich von
meiner Kreuzberger Wohnung an die Spree jogge, sehe ich sie dort warten,
morgens, abends, bei Regen oder Schnee. Ich stelle mir Fragen, die man
für sozial ignorant oder rassistisch halten mag. Müssen die Jungs
kriminell werden, kaum dass sie bei uns angekommen sind? Ist es
Lebenszeitverschwendung, jahrelang in einem deutschen Park
herumzuhängen, um ein paar Euro mit dem Verkauf von Haschisch
einzunehmen? Wäre es nicht besser gewesen, das Geld für die Reise zu
Hause für eine gute Ausbildung auszugeben?
Charles sagt, er deale nicht. Er hänge nur mit seinen Freunden rum. Für
diese Version spricht, dass er tagelang nicht im Park auftaucht.
Gut 1.000 Ghanaer*innen sind 2017 nach Deutschland gekommen – eine
kleine Zahl im Vergleich zu anderen Herkunftsländern wie Syrien, Irak
oder Afghanistan. Die meisten Ghanaer*innen haben keine Chance auf
Asyl. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stuft ihre Heimat
als sicheren Staat ein. Die Demokratie funktioniert dort halbwegs, es
herrscht kein Krieg.
Charles bekam einen Wohnheimplatz in einer Kleinstadt in
Ostdeutschland zugewiesen. Dort wohnen will er aber nicht, auch weil er
Angst davor hat, abgeschoben zu werden. Er ist lediglich geduldet,
bekommt monatlich 140 Euro Bargeld ausgezahlt und findet keine Arbeit.
Für ihn geht es nicht vor und nicht zurück. Er steckt in der Sackgasse.
In Ghana konnte er immerhin etwas Geld verdienen. Für eine Kuh bekam er
1.500 ghanaische Cedi, umgerechnet etwa 270 Euro. Damit kann man als
Einzelperson einige Monate über die Runden kommen. Zum Vergleich:
Berufsanfänger erhalten nach der Schule vielleicht 350 Cedi im Monat.
Ein junger Lehrer kommt auf 750 Cedi.
Mit einem Tuch wedelt Sadam dem Kälbchen vor der Nase herum. Es scheut,
zerrt auf dünnen Beinchen am Strick. Sadam schnalzt mit der Zunge,
streichelt das gräuliche Fell. Tiere sind sein Ding, das sieht man. Aber
diese Kühe, Ziegen, Schafe gehören nicht ihm, sondern einem Nachbarn.
„Meine Herde gibt es nicht mehr“, sagt er. Eines Tages erschien ein
Abgesandter der Stadtverwaltung und erklärte, dass Sadams Viehhaltung
neben dem Abwasserkanal nun verboten sei. Der Kanal liegt hinter Sadams
Haus, Plastikflaschen und Tüten treiben auf der schillernden Brühe, die
übel riecht. Der Verkauf des Fleisches gefährde die Gesundheit der
Käufer, entschied die Stadtverwaltung.
Seitdem ist Sadam Tagelöhner. Er hilft dem Nachbarn mit den Tieren, ihre
Weiden liegen außerhalb der Stadt. An manchen Tagen bringt er 60 Cedi
nach Hause, an anderen nichts. Schwierige Lage, denn Eltern,
Geschwister, Enkel erwarten von ihm, dem ältesten Sohn, dass er die
traditionelle Rolle erfüllt und die ganze Familie ernährt.
Sein Vater habe Vertrauen, sagt Sadam, aber er mache auch Druck. Oft
gibt es Streit. Sadam steckt in der Klemme. Ständig beschwert er sich
über die Ausweglosigkeit, die Armut, die Politik. Hat er mal eine andere
Art des Gelderwerbs ausprobiert? „Früher arbeitete ich bei einem
Klempner, aber das bringt zu wenig Geld.“ Überhaupt: „Unsere Familie hat
immer Vieh gehalten, mein Vater, mein Großvater. Das ist meine Aufgabe.“
Der vorgezeichnete Lebensplan funktioniert jedoch nicht mehr wie früher.
Accra expandiert. Wo sich einst herrenloses Land erstreckte, entstehen
Wohngebiete, Autogeschäfte, Werkstätten. Sadam ist ein
Modernisierungsverlierer.
Ghana sei „halb arm und halb reich“, sagte 2013 der damalige
Staatspräsident Dramani Mahama. Laut Weltbank hat das Land den Status
eines Staates mit „mittleren Einkommen im unteren Bereich“ erreicht. Es
gibt Autobahnen und vernünftige Fernstraßen. Auch kleine Dörfer haben
inzwischen Strom. Wer von Accra an der Küste ins 250 Kilometer nördlich
gelegene Kumasi fährt, passiert zahlreiche neue Siedlungen. Die
Zinkblechdächer glänzen in der Sonne.
Andererseits sind die Lebensumstände von Millionen Menschen sehr
schlicht. Aus europäischer Sicht kann man große Viertel in der
Hauptstadt als Slums bezeichnen. Tausende leben auf der Mülldeponie
Agbogbloshie, wo sie Elektronikschrott ausschlachten. Die
Wirtschaftsleistung pro Kopf erreicht in Ghana etwa 1.500 Euro pro Jahr.
In Deutschland sind es 40.000 Euro. Ghana mag heute etwas weniger arm
sein als früher, doch der sogenannte Wohlstand umfasst dort 4 Prozent
von unserem. Was dieser Unterschied bedeutet, kann sich jeder Ghanaer im
Internet anschauen. Eine Studie des US-Sozialforschungsinstituts Pew
ergab vergangenes Jahr, dass drei Viertel der Bevölkerung das Land
verlassen würden, wenn sie könnten.
Bedenkt man all das, kann man Charles’ Entscheidung zur Auswanderung
plausibel finden. „Jeder in Ghana will weg“, sagt Charles, auf den
Stufen im Görlitzer Park sitzend. Geht es um sein Land, redet er sich in
Rage. Im Krankenhaus dort lägen die Patienten auf dem Flur. Anstatt die
Gesundheitsversorgung zu verbessern, investierten die Politiker die
Entwicklungshilfe lieber in Luxuslimousinen. „Die Wahrnehmung der Leute
ist: Im Ausland geht alles besser.“
Die Todesgefahr schreckt ihn nicht
Auch Sadam will aufbrechen. Die gefährliche Reise durch Libyen, die
Todesgefahr auf dem Mittelmeer schrecke ihn nicht, sagt er. „Ich bin
bereit, mein Leben zu riskieren, um Europa zu erreichen.“ Noch ist das
mehr Wunsch als Plan. An den rostigen Nissan-Landrover seines Nachbarn
gelehnt, sagt er: „Bevor ich reise, muss meine Familie versorgt sein.“
Sein Plan: Geld sparen, ein Grundstück außerhalb der Stadt kaufen, neues
Vieh anschaffen, dann los. Der alte Lebensentwurf – ein letztes Mal.
Aber ist der Weg nach Europa wirklich die einzige Möglichkeit, die Sadam
hat?
Fünf Kilometer von seinem Elternhaus entfernt stehen an einer breiten
Vorortstraße die blau-weiß gestrichenen, einstöckigen Gebäude des
Opportunities Industrialization Centre Ghana (OICG), frei übersetzt
Zentrum für Berufsausbildung. Die Schüler*innen werden hier zu
Automechaniker*innen, Elektriker*innen, Näher*innen,
Grafikdesigner*innen und Köch*innen ausgebildet. Das Ziel ist die
Selbstständigkeit. Viele Absolvent*innen schaffen das. Sadam hat
noch nichts davon gehört.
Die 29-jährige Friseurin Alima Seidu – Goldzahn vorne, dicke Golduhr,
schwarzer Bobschnitt – hat im OICG gelernt. Auf der lila gestrichenen
Veranda ihres Ladens flicht sie einer Kundin Extensions in die Haare.
An den Wänden des vier Quadratmeter kleinen, aus Brettern gebauten
Raumes hängen ein Riesenspiegel und Haarmodefotos. Es gibt ein mobiles
Waschbecken und eine rote Trockenhaube. Fünf Jahre ist es her, dass sie
ihr Geschäft eröffnete. Jetzt hat sie fünf Auszubildende. „Von meinen
Einnahmen kann ich mich, meinen Bruder und mein Kind finanzieren“, sagt
Seidu.
Während der dreijährigen Berufsausbildung zur Friseurin arbeitete sie
nebenbei als Wäscherin, sparte etwa 5.000 Cedi (900 Euro). Die Schule
gab zusätzlich eine Starthilfe von 7.000 Cedi (1.250 Euro). Damit
gründete sie ihr Business in Ghana. Sie verfügte ungefähr über denselben
Betrag wie Charles, der das Geld jedoch für die Emigration verwendete.
Die Schule war ein Glücksfall. „Zufällig hörte ich davon im Radio“, so
Seidu. Der Vorteil beim OICG: Im Vergleich zu anderen Bildungsgängen
sind die Gebühren niedrig – auch dank der Kooperation mit der
evangelischen Entwicklungsorganisation Brot für die Welt in Deutschland.
Zwar kann OICG nur rund 600 Bewerber*innen jährlich aufnehmen.
Grundsätzlich beweist das Modell aber, dass junge Leute in Ghana etwas
reißen können, wenn sie wollen.
Auf seiner Inspektionstour besucht Sam Debrah den Laden von Alima Seidu.
Er ist der Schulleiter des OICG, 50 Jahre alt, trägt ein kragenloses
lila Hemd mit goldenem Muster über der Brust und dunkle Brille mit
blauem Rand. „Es ist nicht wahr, dass alle wegwollen“, sagt er bestimmt.
Aber auch er räumt ein: „Es gibt Gründe zu gehen.“ Zum Beispiel den
Klientelismus: Politiker tendieren erst mal dazu, ihre Familie, Freunde
und Ethnie mit Geld und Aufstiegschancen zu versorgen, bevor andere
drankommen.
Außerdem müssen junge Leute und ihre Familien oft beträchtliche
Schulgebühren oder Schmiergeld aufbringen, damit sie mit der Bildung
vorankommen. Die meisten öffentlichen Schulen verlangen Gebühren. Wer
eine Lehre machen will, muss dem Meister etwas zahlen, anstatt einen
Lohn zu erhalten. Viele Familien können sich das nicht leisten. „Ich
rate meistens trotzdem davon ab, ins Ausland zu gehen“, sagt Schulleiter
Debrah. Ghana entwickele sich, das Land mache Fortschritte.
Dort ist immer Sommer. In Berlin beginnt der Herbst. Kalte Nächte,
das Zelten wird schwieriger, das Leben auch. Charles kommt nicht zur
Verabredung auf den Stufen im Görlitzer Park. „Einfach vergessen“,
erzählt er am nächsten Tag, „ich war so niedergeschlagen. Manchmal
bedauere ich, dass ich weggegangen bin.“
Er fühlt sich alleine, abgeschnitten, fremd, hilflos. „Manchmal denke
ich: Alles Zeitverschwendung hier.“ Er sehnt sich zurück nach seiner
Heimat. Aber gleichzeitig auch nicht. Denn er meint zu wissen, dass sich
zu Hause nichts ändert. „So oder so bin ich arm“, sagt er, „dann schon
lieber arm in Berlin.“
Die Sozialarbeiter im Park haben ihr Büro in einem ehemaligen Bauwagen
unweit der Stufen, von denen Charles in die Gegend guckt. Sie kennen die
Situation der jungen Afrikaner. Für die sei der Zustand, in Berlin zu
sein, vergleichbar mit einem Auto im Leerlauf, das jederzeit losfahren
kann. „In Deutschland kann man wenigstens hoffen.“
„Ja, genau“, sagt Charles. Er kenne einige Landsleute in Berlin, die vor
zehn Jahren angekommen seien und es geschafft hätten. Einer habe eine
Deutsche geheiratet, ein anderer arbeite legal in einem Restaurant und
habe mittlerweile einen besseren Aufenthaltsstatus. „Die sagen: Du hast
das Schwierigste hinter dir – die Reise nach Deutschland.“ Jetzt müsse
er durchhalten. Manchmal fragt er in Geschäften und Firmen in Kreuzberg
nach Arbeit. Wenn die Chefs von seiner Duldung hören, winken sie ab. So
einer kann nächste Woche schon abgeschoben werden.
Ein Restaurant in der Nähe der Zongo Junction. Es gibt Banku –
gesäuerten Maisteig, scharfe Tomatensoße und gebratenen Fisch. Nun macht
Sadam sich daran, die Tasche mit den Textilien aus Europa zu
inspizieren. Er findet die Jeans, die Sportschuhe und ist zufrieden.
„Wäre Charles hiergeblieben“, sagt Sadam, „hätte er diese Tasche nicht
schicken können.“
Für ihn ist sie ein Zeichen des Erfolgs der Auswanderung. Für Charles
dagegen ein bitterer Beweis seines Misserfolges. Der Inhalt dieser halb
vollen Tasche ist ein mageres Produkt seiner zweieinhalb Jahre im
gelobten Land. Und es erscheint fraglich, ob sich das ändert. Er schicke
kein Geld nach Hause, sagt er, es bleibe nichts übrig. Unter diesen
Umständen zurückzukehren, quasi mittellos, ist auch keine Option. „Meine
Familie und Freunde wären nicht erfreut.“
Der eine ist gegangen, der andere geblieben. Es ist die Geschichte eines
gigantischen Missverständnisses. „Er genießt das Leben da drüben“, ist
Sadam sich sicher.
Andererseits: „Wie er wirklich lebt, weiß ich nicht.“
In all den Jahren haben die beiden zwei, drei Mal miteinander
telefoniert. Fragen habe Sadam dabei kaum gestellt, gibt er zu. Er habe
den Freund nicht bedrängen wollen. Und der hat sich wohl geschämt, die
Wahrheit zu erzählen. Für Charles ist das gelobte Land auf ein Zelt im
Park und die Couch bei Freunden geschrumpft, für Sadam blieb es eine
flirrende Fata Morgana.
Nun will Sadam wissen, was ich ihm über Charles’ Situation berichten
kann. Ich frage mich, wie ehrlich ich sein soll. Darf ich Dinge
erzählen, die Charles seinem Freund nicht mitgeteilt hat? Kein Geld,
keine Arbeit, keine deutsche Staatsbürgerschaft. Ein Leben am untersten
Ende. Illusionen am Leben zu erhalten hat jedoch keinen Sinn.
Ich rate Sadam und seinem Freund davon ab, denselben Weg zu gehen. Dabei
höre ich mir zu. Es klingt merkwürdig. Ein Bürger des viertreichsten
Landes der Erde erklärt einem Ghanaer, dass er sein Glück zu Hause
versuchen solle. Wenn ich nun durch den Görlitzer Park renne und den
Dealern begegne, denke ich allerdings auch daran, wie angenehm ich
während der ersten Tage nach meiner Rückkehr die hiesige Lebensqualität
empfand. Keine offenen Kloaken am Straßenrand, in die man abends mangels
Straßenbeleuchtung zu fallen riskiert.
Meine Botschaft kommt an. Der junge Mann auf der anderen Seite des
Tisches hört auf zu essen. Minutenlang sagt er nichts. Guckt ins Leere.
„Charles findet keine Arbeit?“, fragt er dann. Er ist erschüttert. Das
ist das Gegenteil seines Bildes vom reichen Norden. „Keine Arbeit habe
ich auch hier.“
Etwas später: WhatsApp-Kommunikation zwischen Berlin und Accra. „Sadam,
denkst du noch darüber nach, Richtung Europa aufzubrechen?“ Antwort:
„Wie gesagt: Wenn ich meine Familie versorgt habe, wird mich nichts
davon abhalten, Hannes.“