Niemand muss frieren
Wen ein russischer Lieferstopp trifft
24. Mär. 2022 –
Vier Wochen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine werden weitere Sanktionen gefordert – vor allem ein Stopp der Energielieferungen aus Russland. Und auch Russland droht immer wieder damit, den Gashahn zuzudrehen. Wir beantworten die wichtigsten Fragen.
Warum ist Erdgas für Deutschland so wichtig?
Gas war 2021 nach Angaben der AG Energiebilanzen mit einem Anteil von 27 Prozent nach Mineralöl und vor Erneuerbaren Energien der zweitwichtigste Energieträger in Deutschland. Mit mehr als einem Drittel nahm die Industrie nach Zahlen des Branchenverbands BDEW am meisten Gas ab, vor allem für Prozesswärme, eigene Stromerzeugung und als Grundstoff. Mit gut 31 Prozent heizten und kochten Privatleute, rund 13 Prozent gingen in die Stromerzeugung.
Wie abhängig ist Deutschland vom russischen Gas?
Mehr als die Hälfte des Erdgases, das in Deutschland verbraucht wird, kommt aus Russland. Weniger als ein Drittel liefert Norwegen.
Wie viel Geld würde Russland verloren gehen, würden die Gaslieferungen gestoppt?
Allein im Januar nahm Russland nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes 1,16 Milliarden Euro aus Gaslieferungen an Deutschland ein, 2021 waren es 9,87 Milliarden Euro. Energielieferungen sind von den Sanktionen gegen Russland ausgenommen, auch die Bezahlung dafür.
Wie kommt Deutschland an russisches Gas?
Geliefert wird derzeit vor allem durch drei Pipelines: Nord Stream durch die Ostsee, Jamal durch Belarus und Polen und Sojus über die Ukraine und die Slowakei.
Wie lässt sich das Gas physisch abstellen?
Es gibt aus Sicherheitsgründen zahlreiche Sperren in den Pipelines, die sowohl auf russischer als auch auf EU-Seite geschlossen werden können. Schließen die staatlichen russischen Lieferanten eine Pipeline, machte sich das in Deutschland durch einen Druckabfall bemerkbar, etwa am deutschen Ende von Nord Stream in Lubmin. Üblicherweise fließt das Gas mit einem sehr hohen Druck von 180 bar durch die Leitungen. Deshalb sollte die europäische Seite die russische auch informieren, sollte die EU ihrerseits die Ventile an einer Pipeline schließen. Liefert Russland weiter, könnte der steigende Druck die Anlagen beschädigen. Die russischen Gasförderer können zudem die Förderstellen mit Ventilen verschließen.
Was plant Europa?
Die EU denkt über ein Embargo russischen Gases nach. Demnach könnte der staatliche russische Gazprom-Konzern zwar weiter Gas durch die Leitungen schicken, es aber nicht mehr verkaufen. Auch die russischen Banken, über die die Energielieferungen noch bezahlt werden können, könnten sanktioniert werden. Physisch geschlossen werden müsste eine Pipeline dann nicht mehr – jedenfalls nicht sofort.
Wie wahrscheinlich ist ein Gasstopp?
Schwer zu sagen. Russland droht, ist aber auf die Devisen angewiesen. Und Deutschland? Ein solcher Stopp würde die deutsche Wirtschaft wohl in die Rezession ziehen. Alle Folgen sind kaum zu überblicken. Dennoch: Die Bundesnetzagentur arbeitet gerade gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsministerium und Industrieverbänden daran, festzulegen, wen ein Lieferstopp als erstes treffen würde. Ob ein Gasstopp sein Ziel erreicht, den Krieg in der Ukraine zu beenden, ist unklar. Warum sollte Putin sein Verhalten dann ändern, wenn es ihm jetzt schon nicht mehr möglich ist?
Wem wird zuerst Gas abgestellt, wenn es in Deutschland knapp wird?
Nach dem Notfallplan Gas wird zunächst der Industrie das Gas abgedreht. Soziale Einrichtungen, etwa Krankenhäuser, Fernwärme-Kraftwerke und Privatleute würden weiter beliefert. Nur im äußersten Notfall müssten die Menschen also frieren.
Welche Industrien wären betroffen?
Grob gesagt würde es sehr energieintensive Industrien zuerst treffen. Doch das ist nicht das einzige Kriterium. Möglicherweise können Lebensmittelhersteller länger arbeiten als zum Beispiel Glas- oder Aluminiumproduzenten. Bei manchen Firmen werden auch die Anlage beschädigt, sollten sie sie wegen Gasmangel herunterfahren.
Wie realistisch ist es, das russische Gas durch Lieferungen aus anderen Ländern zu ersetzen?
Die Bundesregierung und auch die EU arbeiten seit Wochen daran, die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Zuletzt kaufte Deutschland Gas in Qatar. Das Land liegt dem Statistical Review of World Energy von BP zufolge nach Russland und dem Iran mit 13,1 Prozent Anteil an den Weltgasreserven auf Rang drei. Das Problem: Qatar ist autoritär regiert, schert sich wenig um Menschenrechte. Weitere Gaslieferanten könnten die USA oder Nigeria werden. Das Gas muss jeweils verflüssigt und nach Europa verschifft werden, etwa nach Rotterdam, wo es entsprechende Terminals für Flüssiggas (LNG) gibt. In Deutschland sollen solche Terminals erst gebaut werden. Früheste Anlandemöglichkeit nach aktuellem Stand: 2026.
Bis wann kann Deutschland unabhängig von russischem Gas sein?
In der Studie „Energiesicherheit und Klimaschutz vereinen“ hat die Organisation Agora Energiewende ausgerechnet, dass Deutschland frühestens 2027 unabhängig von russischem Gas sein kann. Ein Lieferstopp oder Embargo sofort ließe sich nicht vollständig auffangen – selbst wenn alle intensiv sparen.
Wie sicher sind die Pipelines vor dem Krieg?
Nord Stream in der Ostsee und Jamal durch Belarus sind vom Krieg nicht betroffen. Die Sojus-Pipeline verläuft in zwei Strängen durch die Ukraine. Sollte sie während der Kämpfe getroffen werden, kann die Pipeline vor und hinter dem zerstörten Stück an sogenannten Konverterstationen geschlossen werden. Gas träte nicht aus, allerdings wäre die Lieferung unterbrochen, bis das Teilstück repariert ist. Über Sojus kommt am wenigsten russisches Gas nach Deutschland.
Russland verlangt, das Gaslieferungen künftig nur noch in Rubel bezahlt werden. Warum?
Zunächst stützt das Vorgehen den Rubel-Kurs, der mit Beginn der Sanktionen gegen Russland abgestürzt ist. Denn die Gaskäufer müssen sich Rubel beschaffen, um bezahlen zu können. Unklar ist, ob sich die benötigten großen Rubel-Mengen überhaupt am Markt beschaffen lassen. Der Essener Energiekonzern Uniper, einer der größten Gasimporteure Deutschlands, wollte die Vorgabe des Kreml nicht kommentieren. Die Entscheidung Wladimir Putins ist vor allem deshalb irritierend, weil die Gaskäufer üblicherweise direkt mit Euro oder Dollar zahlen und Russland auf diese Devisen angewiesen ist. Jetzt müssen sich die Unternehmen umständlich Rubel beschaffen, eventuell mit Devisen über die mit Sanktionen belegte russische Zentralbank. Das Verfahren verkompliziert alles. Ein Finanzmarktexperte vermutet eine reine Propaganda-Show Putins.