Ohne Porsche durch die L-Kurve

Die Wirtschaftskrise und unsere Vorstellung von Gerechtigkeit

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Von Hannes Koch

09. Apr. 2009 –

Auf dem Küchentisch liegt die „Bravo“ meiner Tochter. Die Sängerin Ashley Tisdale, 23, lese ich, fährt mehrere Autos, das preiswerteste Modell ist ein Porsche Boxter für 50.000 Euro. Mehr nicht? Ich bin erstaunt und schaue nach. Porsche-Webseite, Modellvergleich, Boxter. Stimmt, 46.142 Euro inklusive Mehrwertsteuer. Ich hätte das Doppelte geschätzt.

 

Kann ich mir trotzdem nicht leisten. Nein, besser: Würde ich mir sowieso nie leisten wollen, weil anderes wichtiger ist – Reisen beispielsweise. Ach, Quatsch. Es handelt sich um faktisch bedingte Bescheidenheit. Wenn ich das Geld hätte, würde ich zuschlagen. Vielleicht klappt es irgendwann?

 

Es ist diese immerwährende Hoffnung auf materiell definierten sozialen Aufstieg, die die Finanzkrise für längere Zeit begraben könnte. US-Ökonom Nouriell Roubini warnt vor einer Wirtschaftsentwicklung, die dem Buchstaben „L“ ähnelt – steiler Absturz, lange Stagnation auf niedrigem Niveau.

 

Fünf Prozent Schrumpfung der deutschen Wirtschaftsleistung in diesem Jahr bedeuten ein Minus von rund 130 Milliarden Euro. Auf die Erholung 2010 wettet niemand. Prognosen verschieben den Aufschwung zunehmend in die Zukunft. Viele reden über eine „lost decade“, ein verlorenes Jahrzehnt, wie es Japan in den 1990er Jahren erlebte. Vielleicht kommt es anders. Aber wir sollten uns mit dieser Variante vertraut machen.

 

Sie würde ziemlich viel über den Haufen werfen. Unser Modell der Sozialen Marktwirtschaft funktioniert nur deshalb relativ reibungslos, weil es die materiellen Ansprüche der wichtigen Bevölkerungsgruppen aus dem Wirtschaftswachstum finanziert. Hohe Kapitalrenditen für Firmen und Aktionäre, steigende Gehälter für die Mittelschicht, eine halbwegs menschenwürdige soziale Sicherung für die Abgehängten – dafür ist nur dann genug Geld da, wenn das Bruttoinlandsprodukt jedes Jahr um zwei oder drei Prozent wächst.

 

Dies spiegelt sich in der vorherrschenden Vorstellung von Gerechtigkeit, die der liberale Sozialphilosoph John Rawls so beschrieb: Dass manche Leute unheimlich reich sind, noch dazu immer vermögender werden, stört diejenigen, die am Minimum leben, oft wenig. Das gilt, so Rawls, unter einer Voraussetzung: Alle, auch die Schlechtgestellten, wollen vom allgemeinen Zuwachs wenigstens ein bisschen abbekommen – wieviel, ist ihnen egal, auf die Chance des Zuwachses kommt es an.

 

Weil aber der allgemeine Zugewinn fehlte, könnte diese Art, Gerechtigkeit herzustellen, unter den Bedingungen der Stagnation nicht mehr funktionieren. Den Unternehmen und Kapitalbesitzern würde es weiterhin - wie immer - gelingen, ihre Rendite zusichern. Die Mehrheit aber schaute in Röhre. Wie ließe sich dieser Systembruch unter den Bedingungen der Stagnation kitten?

 

Es gilt, eine Selbstbeschränkung der Reichen zu institutionalisieren. Dass so etwas möglich ist, zeigen die neuesten Nachrichten aus den USA. Dort hat gerade der Kongress eine Einkommenssteuer von 90 Prozent beschlossen, die Manager staatsgestützter Banken auf ihre Boni zahlen müssen. So schnell verschieben sich die Maßstäbe! Da nehmen sich die Spitzensätze der Einkommenssteuer von 55 Prozent in Schweden und 59 Prozent in Dänemark schon fast bescheiden aus. Nicht unwahrscheinlich erscheint es, dass die Kapitalbesitzer unter dem Druck der Krise und ihres Versagens einem neuen Gesellschaftsvertrag zustimmen. Dieser Krisenkonsens würde beinhalten, dass der Teil der Wertschöpfung, den sie beanspruchen, erheblich geringer ausfällt, als bisher.

 

Die Instrumente, dies zu verwirklichen, sind vorhanden: ein höherer Spitzensatz der Einkommenssteuer, Erbschaftsteuer, Vermögenssteuer, eine neue Börsenumsatzsteuer für die Finanzmärkte. Letztere verlangen mittlerweile nicht mehr nur die Globalisierungskritiker von Attac, sondern selbst SPD-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hat sie sich zu eigen gemacht. Das zusätzliche Geld wird auch dringend gebraucht. Denn die Schuldenlast, die künftig auf uns alle zukommt, wird deutlich steigen. Hunderte Milliarden Euro, die Bundesrat, Bundestag und Regierung heute zur Bekämpfung der Finanzkrise ausloben, müssen irgendwann mindestens teilweise zurückgezahlt werden.

 

Doch nicht alle Kosten der Stagnation lassen sich die Wohlhabenden und Reichen aufbürden. Wenn die Nachfrage nach Produkten nachlässt oder sinkt, werden die Unternehmen ihr Personal reduzieren und versuchen, die Löhne der übrigen Beschäftigten zu drücken. Der materielle Zuwachs der Mittelschichten wird in Frage gestellt. Nur einzelne Branchen, Firmen und Bevölkerungsgruppen können noch profitieren, viele werden sich jedoch mit weniger zufriedengeben müssen.

 

Die Lage könnte dann so aussehen: Unternehmen und vermögende Bürger verbuchen weiterhin einen gewissen Gewinn. Die materielle Ausstattung des Bürgertums dagegen nimmt ab. Um trotzdem Rawls´ Gerechtigkeitsdefinition zu erfüllen und den gesellschaftlichen Frieden zu wahren, müsste der nicht mehr vorhandene materielle Zuwachs durch andere Verbesserungen kompensiert werden. Hier stellt sich die Frage: Lässt sich Lebensqualität dematerialisieren?

 

Als die grüne Partei noch konsumkritisch war, verfügte sie über eine heute etwas verstaubt anmutende Antwort. Die lautete: Wer weniger arbeitet, hat mehr Zeit zum Leben. In den 1980er und 1990er Jahren hingen auch einige Gewerkschaften dieser Einstellung an. „Arbeitszeitverkürzung“ – wenn notwendig auch ohne Lohnausgleich – lautete eine zentrale Forderung der postmaterialistischen Ära.

 

Heute könnte auf dieser Basis ein neues Bündnis zwischen der Oberschicht, der breiten Mitte und den ärmeren Bevölkerungsgruppen entstehen. Das reiche Drittel der Gesellschaft erhielte nur eine eingeschränkte Kapitalrendite. Mit seinem Verzicht auf hohe Profite würde es neben den Schulden der Krise auch die Lebensqualität der Mehrheit finanzieren: bessere Kindergärten, Schulen und Unis, funktionierende Bus- und Bahnverbindungen, öffentlich finanzierte Theater, Schwimmbäder und Freizeiteinrichtungen.

 

Die Mittelschicht müsste ihre persönlichen Lebensziele und Entwicklungswünsche etwas weniger als heute in den Kategorien materiellen Zuwachses messen. 5.000 Euro Monatsverdienst pro Job, Küchenzeile mit Granit-Arbeitsplatte, zwei Tiefkühltruhen und drei Flachbildschirme, Haus an Stadtrand, großer Kombi plus Zeitwagen würden nicht mehr ungefochten als erstrebenswert gelten. Beruflicher Erfolg würde mit Ansehen, Verantwortung, Freizeit, Entspannung und Reisen honoriert.

 

Das klingt paradiesisch und snobistisch. Aber ich weiß: Nicht nur die Reichen müssen sich entscheiden, auch ich muss mich entscheiden. Ob das klappt? Gold war immer schon begehrt. Wollen nicht alle Porsche fahren? Bin ich zufrieden, wenn der Traum ausgeträumt ist? Aber jetzt muss ich los. Wo ist mein Fahrradschlüssel?

 

Hannes Koch

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