Per Zufall zur Demokratie

Bürgerbeteiligung statt Populismus: Die vierte Gewalt der „Konsultative“ soll mehr Mitwirkung ermöglichen, schlagen die PolitikwissenschaftlerInnen Patrizia Nanz und Claus Leggewie vor.

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Von Hannes Koch

15. Mär. 2016 –

Wenn einem wohlmeinenden Politiker der Ruf „Volksverräter“ entgegenschallt – wie unlängst Bundespräsident Joachim Gauck in Bautzen – drückt sich darin ein schwer zu reparierendes Misstrauen in demokratische Institutionen aus. Um die oft beklagte, zunehmende Entfremdung zwischen den Bürgern und ihren Repräsentanten zu verringern, schlagen die PolitikwissenschaftlerInnen Patricia Nanz und Claus Leggewie nun vor, flächendeckend neue Beteiligungsverfahren einzuführen. Sie nennen sie „Konsultative“.

 

Dies ist ein Oberbegriff für moderne Partizipationsformen. Eine konkrete Ausprägung sind Zukunfts- oder Bürgerräte. Diese funktionieren idealtypisch so: Eine Stadt wählt aus ihrem Melderegister 1.000 Personen per „qualifizierter Zufallsauswahl“ aus. Dabei wird das Los kombiniert mit einigen Auswahlkriterien wie beispielsweise Geschlechterparität und Querschnitt der Bildungsabschlüsse. Da erfahrungsgemäß viele Ausgewählte absagen, werden gezielt weitere Teilnehmer eingeladen, bis eine annähernd repräsentative Gruppe beisammen ist.

 

Diese berät maximal zwei Jahre über ein Problem wie Stromleitungsbau, Verkehrsplanung oder die Integration von Flüchtlingen. Mit der abschließenden Empfehlung des Bürgerrates muss sich der Stadtrat auseinandersetzen. Er ist verpflichtet, seine anschließende Politik in diesem Licht zu rechtfertigen. Nanz und Leggewie betrachten dieses Verfahren nicht als Attacke auf Legislative, Exekutive und Judikative, sondern als Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch eine „vierte Gewalt“. Sie meinen, dass sich damit Partizipation auf allen Ebenen erneuern lasse – in Gemeinden, Bundesländern oder auch in Europa.

 

Anlässlich der Vorstellung des Leggewie-Nanz-Buches „Die Konsultative – mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung“ schilderte Manfred Hellrigl praktische Erfahrungen. Er leitet das Zukunftsbüro des österreichischen Bundeslandes Vorarlberg, das bereits zahlreiche Bürgerräte organisiert hat. So sei es beispielsweise gelungen, einen 30jährigen Konflikt um die Stadtentwicklung in Bregenz zu lösen und einen Plan für die Integration von Einwanderern zu erarbeiten. Die neue Beteiligungsform werde von den Teilnehmern geradezu gefeiert, so Hellrigl.

 

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kommentierte den Vorschlag mit „Sympathie und Skepsis“. Einerseits sieht er die dringende Notwendigkeit, Partizipation fortzuentwickeln, andererseits befürchtet er, dass das verbreitete Misstrauen gegen bestehende Institutionen ausstrahlt auch auf die „vierte Gewalt“ - womit dann nicht viel gewonnen wäre.

 

Verschiedene politische Ebenen experimentieren schon jetzt immer mal wieder mit Bürgerräten. Das Bundesumweltministerium hält beispielsweise Bürgerdialoge und Bürgerräte in mehreren Städten ab, um die Interessierten an der Ausarbeitung des kommenden Umweltprogramms zu beteiligen. Die Ergebnisse der Veranstaltungen werden in den Abschlussbericht aufgenommen.

 

Info-Kasten

Das Buch

Patrizia Nanz, Claus Leggewie: Die Konsultative – mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2016. 112 Seiten, 9,90 €.

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