Pille mit unbekannten Nebenwirkungen

Die Folgen eines flächendeckenden Mindestlohnes lassen sich nicht genau vorhersagen

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Von Wolfgang Mulke

28. Okt. 2013 –

In den nächsten Wochen entscheidet sich, ob es in Deutschland künftig einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn gibt. Vermutlich wird in den Koalitionsverhandlungen einer der letzten Punkte sein, in denen SPD und Union sich einigen. Für die Sozialdemokraten steht viel auf dem Spiel. Ohne eine Lohngarantie von 8,50 Euro wollen sie keinen Koalitionsvertrag unterschreiben. Unterdessen streiten Fachleute und Stammtische über die Auswirkungen einer in Rostock wie Garmisch geltenden Lohnuntergrenze. Im Kern geht es um zwei Fragen. Kostet eine solche Vorgabe Arbeitsplätze? Und verhilft ein Mindestlohn schlecht bezahlten Arbeitnehmern zu einem auskömmlichen Erwerbseinkommen und damit zu etwas mehr Verteilungsgerechtigkeit?

 

Die Meinungen gehen weit auseinander. Der Volkswirtschaftler Ronnie Schöb von der FU Berlin warnt vor einem massiven Verlust an Billigjobs. 250.000 Stellen gingen verloren, die Hälfte davon im Osten, glaubt der Forscher. Auch die führenden Wirtschaftsinstitute haben in ihrem Herbstgutachten deutliche Arbeitsplatzverluste vorhergesagt. Die bisherigen Erfahrungen in Deutschland stützen diese These nicht. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat weder im Baugewerbe, wo es schon lange Mindestlöhne gibt, noch bei Wäschereien wesentliche Beschäftigungseffekte festgestellt.

 

Es geht um Einkommenssteigerungen für rund 5,6 Millionen Arbeitnehmer, die derzeit weniger als 8,50 Euro in der Stunde verdienen. Jeder sechste Beschäftigte in Deutschland würde davon profitieren. In Ostdeutschland erhält sogar jeder vierte nicht einmal diesen Lohn. Die Billigjobs konzentrieren sich auf einige Branchen. In der Landwirtschaft, im Handel, bei Wachdiensten, in der Gastronomie, bei Zeitarbeitsfirmen oder Frisören sind Minilöhne weit verbreitet. Dabei wurden in den vergangenen Jahren schon eine Reihe von Lohnuntergrenzen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelt. 13 Mindestlöhne gibt es derzeit für rund 4,8 Millionen Beschäftigte. Sie reichen von sieben Euro in Wäschereien bis hin zu 11,53 Euro bei Bergbau-Spezialgesellschaften.

 

Die Union würde gerne die bisherige Strategie von nach Branchen und Regionen differenzierten Mindestlöhnen beibehalten. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) spricht für dieses Vorgehen. Vor allem kleine Betriebe und Firmen in Ostdeutschland könnten oft keine 8,50 Euro bezahlen und die Mehrkosten an die Kunden weiter geben. Das DIW plädiert daher für einen vorsichtigen Einstieg in die Lohngarantie. Sieben Euro hält sein Arbeitsmarktexperte Karl Brenke für angemessen. Wenn damit keine Jobs verloren gingen, könne der Betrag schrittweise erhöht werden.

 

Auf Seiten der SPD und im Gewerkschaftslager stoßen die Bedenken auf Widerspruch. So verweist der Chef des Instituts für Makroökonomie (IMK), Gustav Horn, auf das Beispiel England. Auf der Insel habe ein vergleichsweise hoher Mindestlohn von 7,78 Euro keine Stellen gekostet. Zudem gehört der Staat für ihn zu den Gewinnern einer Lohngarantie. „Er braucht nicht mehr die niedrigen Gehälter aufstocken“, erläutert Horn. Außerdem sieht er zusätzliche Milliardeneinnahmen für die Sozialkassen und den Finanzminister. Die Befürworter erhoffen sich zudem ein kleines Konjunkturprogramm durch einen hohen Mindestlohn, der die Einkommen der Geringverdiener insgesamt auf einen Schlag um gut 14 Milliarden Euro anheben würde. Denn das Geld würde schnell in Konsumausgaben fließen. Auf diese Weise entsteht ein wenig mehr Verteilungsgerechtigkeit. Das steht, wie Umfragen belegen, bei einer breiten Mehrheit der Bevölkerung hoch im Kurs. Bei einer Volksabstimmung würde der SPD-Vorschlag deshalb wohl angenommen.

 

Der Verweis auf Erfahrungen in anderen Ländern zeigt allerdings kein eindeutiges Bild pro oder contra Mindestlohn. In Europa haben 20 Länder Untergrenzen eingeführt. Die Spanne ist erheblich. Sie reicht von 80 Cent in Bulgarien bis über elf Euro in Luxemburg. Mit 8,50 Euro bewegt sich die SPD im Mittelfeld zwischen vergleichbaren Wirtschaftsnationen. England gewährt 7,78 Euro, Frankreich 9.43 Euro. Bei den Franzosen zeigt sich eine Kehrseite eines hohen Mindestlohnes. Die Jugendarbeitslosigkeit ist extrem hoch. Nachgewiesen ist der Zusammenhang jedoch nicht.

 

Befürworter und Gegner fischen folglich im Trüben, wenn sie diese oder jene Folge skizzieren. So werden sich auch die angehenden Koalitionäre fragen, wie sie die gegenwärtigen Gegensätze auflösen können. Eine Möglichkeit wäre das Thüringer Modell. Es sieht die Einrichtung einer unabhängigen Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften vor, die einmal jährlich einen bundesweit geltenden Mindestlohn aushandeln. In England funktioniert dieses Modell recht gut. Ob bei diesen Verhandlungen eine sieben oder eine acht vor dem Komma steht, bliebe dann erst einmal offen.

 

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