„Sozialpflichtigkeit ist kein Enteignungsgrund“
Die Rechtmäßigkeit einer Enteignung von Wohnungsbesitzern ist umstritten. Der Wissenschaftler Ulrich Stelkens von der Verwaltungshochschule Speyer hält einen Erfolg des Berliner Volksbegehrens für möglich.
03. Apr. 2019 –
Gab es in der Bundesrepublik bereits Enteignungen in ähnliche gelagerten Fällen, also nicht, um etwa Grund und Boden für Autobahnbauten zu erwerben?
Ulrich Stelkens: Eine vergleichbare Enteignung gab es noch nicht. Vor allem unmittelbar nach dem Krieg und aber auch während der Flüchtlingskrise wurden in größerem Umfang Wohnungen beschlagnahmt, um Menschen darin zeitweilig unterzubringen. Das waren jedoch keine eigentlichen Enteignungen. Die Beschlagnahme war begrenzt auf eine bestimmte Situation und auf eine gewisse Zeit und es werden in diesen Fällen Nutzungsentschädigungen in Mietpreishöhe bezahlt. Es handelte sich dabei also um keine staatliche Wohnungspolitik. Diese verfolgte bisher eine Strategie des sozialen Wohnungsbaus: Der Staat förderte den Wohnungsbau durch private Investoren. Im Gegenzug mussten sich diese verpflichten, die Wohnungen günstig zur Miete anzubieten.
Wie beurteilen Sie die Chancen, dass eine Enteignung der großen Wohnungsgesellschaften in Berlin tatsächlich durchgeführt werden könnte?
Stelkens: Verfassungsrechtlich völlig ausgeschlossen scheint ein solches Vorhaben nicht. Der Artikel 15 GG erlaubt nicht nur dem Bund Enteignungen zum Zwecke der Vergesellschaftung, sondern auch den Ländern, wie sich auch aus Artikel 74 Absatz 1 Nr. 15 GG ergibt. Ob eine solche Vergesellschaftung durchgeführt wird, ist daher v. a. eine politische Entscheidung. Die praktischen Hindernisse sollten allerdings nicht unterschätzt werden: Zunächst sieht auch Artikel 15 GG eine Entschädigung vor, die aus den Landesmitteln bezahlt werden müsste. Vor allem müsste Berlin aber eine eigene umfassende Wohnungsverwaltungsinfrastruktur aufbauen, wie dies die Initiative ja auch fördert. Ob diese dann effektiv ist? Da es in der bundesdeutschen Geschichte keine Präzedenzfälle gibt, werden die jetzigen Wohnungseigentümer natürlich auch gerichtliche Schritte gegen ihre Enteignung einleiten. In den Gerichtsverfahren müsste dann nicht nur erstmals der Inhalt des Artikels 15 GG näher bestimmt werden, sondern es müsste auch geklärt werden, inwieweit es unter Gleichheitsgesichtpunkten möglich ist, nur das Wohnungseigentum einzelner Gesellschaften oder einzelner Unternehmen ab einer bestimmten Größe zu enteignen. Es stellen sich zusätzlich zudem noch europarechtliche Fragen, deren Lösung zumindest nicht auf der Hand liegt.
Artikel 14 GG sieht eine Entschädigung der Eigentümer vor, die unterhalb des Marktwertes liegen kann. Wie wird ein Entschädigungswert überhaupt ermittelt?
Stelkens: Die Frage der Entschädigung ist schwierig. Der Artikel 14 GG, auf den Art. 15 GG hinsichtlich der Entschädigung verweist, lässt eine Ausgleichszahlung unterhalb des Marktwertes wohl zu. Die Berechnung wäre aber eine höchst komplexe Angelegenheit. Normalerweise gibt es bei Enteignungen den Marktwert. Billig würde es für Berlin jedenfalls nicht und die betroffenen Unternehmen würden Abschläge sicherlich nicht einfach hinnehmen, sondern eben gerichtliche Schritte einleiten.
Die Initiatoren argumentieren in der öffentlichen Debatte unter anderem mit der Sozialverpflichtung des Eigentums. Ist dieser Zusammenhang aus Ihrer Sicht gegeben und was bedeutet diese Vorgabe des GG eigentlich genau?
Stelkens: Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist kein Enteignungsgrund, sondern legitimiert den Gesetzgeber zu gesetzlichen Regelungen, die sozialschädliche (Aus-)Nutzungen des privaten Eigentums zu begrenzen. Das soziale Wohnungsmietrecht ist ein Beispiel dafür. Die Mietpreisbremse, Milieuschutzgebiete oder der allgemeine Kündigungsschutz für Mietwohnungen schränken die Freiheit der Vermieter ein. Eine Enteignung ist das nicht und es muss auch keine Entschädigung gezahlt werd