Sozialrevolution in der Union
Das bisherige Sozialsystem abzuschaffen und durch ein radikal neues Modell zu ersetzen, fordern jetzt Mitglieder einer CDU-Kommission. Der ehemalige Ministerpräsident von Thüringen, Dieter Althaus, schlägt seiner Partei vor, ein bedingungsloses Grundeinko
28. Okt. 2010 –
Für große Visionen ist die CDU nicht gerade bekannt. Dieser Wahrnehmung widerspricht der Bericht, den Dieter Althaus, der Vorsitzende der CDU-Kommission „Solidarisches Bürgergeld“, am kommenden Montag in Berlin präsentieren wird. Es geht um nichts weniger, als eine Mega-Reform, die rund 800 Milliarden Euro jährlich umfassen würde – etwa 30 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung.
Hartz IV würde abgeschafft, heißt es in dem Bericht, mit dem die Arbeit der Kommission endet. Die Bürger wären nicht mehr Bittsteller, müssten nicht länger ihre Bereitschaft zu arbeiten nachweisen, sondern bekämen jeden Monat automatisch vom Finanzamt 600 Euro überwiesen. Kinder erhielten denselben Betrag. 200 Euro pro Person müssten allerdings verpflichtend in die gesetzliche Krankenkasse eingezahlt werden. Mit den verbleibenden 400 Euro läge das Bürgergeld trotzdem noch zehn Prozent über dem heutigen Regelsatz von Hartz IV.
Damit nicht genug: Hinzu käme auf Antrag der Bürgergeldzuschlag, der die Kosten der Unterkunft abdeckte. Im Gegenzug fielen bisherige Sozialtransfers weg, unter anderem das Arbeitslosengeld II, die Sozialhilfe, das Kindergeld und das Bafög.
„Die Einführung des Solidarischen Bürgergeldes bietet die Chance zur Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft“, sagt Dieter Althaus, ehemaliger CDU-Ministerpräsident von Thüringen und jetziger Manager des Autozulieferers Magna. Er sieht in seinem Konzept eine „Verbindung aus sozialer Sicherheit und wirtschaftlicher Freiheit“.
Das Bürgergeld ist verwandt mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, das Götz Werner propagiert, der Miteigentümer der Drogeriekette dm. Dieser hat am Bericht mitgearbeitet. Die Debatte über neue Formen der sozialen Sicherung begann nach der Hartz-Reform 2002. Befürworter finden sich auch bei den Grünen, der Linkspartei und in außerparlamentarischen Initiativen. Sie argumentieren, das aktuelle System setze zu sehr auf Zwang, wirke für Millionen Betroffene entwürdigend und biete keine ausreichende Absicherung gegen die zunehmende Armut.
Althaus und sein ehemaliger Staatssekretär Hermann Binkert, die Hauptautoren des CDU-Berichts, schlagen nun vor, das Bürgergeld in Form einer „negativen Einkommensteuer“ von den Finanzämtern auszahlen zu lassen. Wer keine eigenen Einkünfte hat, soll den Staatstransfer plus Zulagen in voller Höhe erhalten. Bei Bürgern, die niedrige Einkommen aus Lohnarbeit erzielen, würden diese mit dem Bürgergeld-Anspruch verrechnet.
Ein alleinstehender Arbeitnehmer mit 1.200 Euro Bruttoeinkommen müsste nach dem neuen Modell beispielsweise 480 Euro Steuern an den Staat zahlen. Weil er aber umgekehrt 600 Euro Bürgergeld erhielte, würde er unter dem Strich noch 120 Euro zusätzlich zu seinem Einkommen bekommen. Dieser Kombilohn soll die Bürger animieren, trotz niedrigerer Löhne zu arbeiten und sich nicht in die soziale Hängematte zu legen. In Althaus´ Modell kommen Arbeitnehmer mit bis zu 18.000 Euro Einkommen in den Genuss einer Bürgergeld-Überweisung. Wer mehr verdient, zahlt unter dem Strich Steuern an den Staat.
Nicht nur die Auszahlung, sondern auch die Einnahmeseite wollen Althaus und Binkert radikal vereinfachen. Sämtliche Sozialbeiträge, die Firmen und Beschäftigte heute in die Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Rentenkasse zahlen, sollen wegfallen. Stattdessen schlagen sie vor, das Sozialsystem aus drei Quellen zu finanzieren: einer einstufigen Einkommensteuer von 40 Prozent auf alle Verdienste einschließlich Mieteinkünften und Kapitalerträgen, einer Mehrwertsteuer und einer Lohnsummenabgabe in Höhe von 18 Prozent, die die Unternehmen entrichten.
Weil die Sozialabgaben abgeschafft werden und jeder Arbeitnehmer einen steuerlichen Grundfreibetrag von 18.000 Euro genießen soll, fiele die Belastung der Bürger mit Steuern und Abgaben insgesamt geringer aus als heute, sagt Althaus. Einige Gruppen jedoch, beispielsweise die Kapitalbesitzer, müssten wegen der einheitlichen „flat tax“ von 40 Prozent größere Lasten tragen.
Zur Frage, ob das neue Abgabensystem auch gerecht wäre, steht im Bericht wenig. Der einstufige 40-Prozent-Steuersatz, der für niedrige und hohe Einkommen gleichermaßen gilt, könnte dazu führen, dass Wohlhabende und Reiche im Vergleich zu heute Vorteile hätten. Gegenwärtig liegt der Spitzensteuersatz bei 45 Prozent.
Althaus und Binkert argumentieren, ihr Konzept wäre bezahlbar. Als Beleg liefern sie umfangreiche Berechnungen. Das neue System würde ungefähr 800 Milliarden Euro jährlich kosten, gespeist aus der Einkommen-, Mehrwert- und Lohnsummensteuer.
In den vergangenen Jahren haben Wirtschaftsforscher höchst unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der Finanzierbarkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens in Deutschland gegeben. Zu einem klaren „Nein“ kamen die Fünf Weisen, die die Bundesregierung beraten. Dagegen machte Ökonom Thomas Straubhaar, Chef des Hamburger Weltwirtschaftsinstitutes, ein Befürworter des Grundeinkommens, eine positive Rechnung auf.
Wie es nun in der CDU weitergeht, steht in den Sternen. Die Kritiker des Bürgergelds sind in der Mehrheit. Ihr Anführer ist Kanzleramtsminister Ronald Pofalla. Auch Wirtschaftspolitiker Michael Fuchs sagt: „Das Modell des Solidarischen Bürgergeldes ist keine Alternative zum bestehenden Sozialsystem. Es weckt falsche Hoffnungen, denn es entkoppelt das eigene Einkommen von der Notwendigkeit der Erwerbsarbeit.“
Die Kommissionsmitglieder tragen die Ideen des Althaus-Berichts teilweise mit. Offiziell beschlossen haben sie ihn aber nicht. Althaus will durch die Veröffentlichung verhindern, dass die Arbeit versandet. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe hat die Tätigkeit der Kommission gewürdigt. Der Bericht über das Bürgergeld liefere „eine wichtige Grundlage“ für die weitere Arbeit der Partei. "Die von der Kommission gefundenen Erkenntnisse und Diskussionsbeiträge werden im CDU-Bundesfachausschuss Arbeit, Sozialpolitik und Gesundheit weiter diskutiert werden", sagte ein CDU-Sprecher.
Das kann man auch als Begräbnis erster Klasse verstehen. Althaus-Mitstreiter Thomas Dörflinger, Bundestagsabgeordneter und Chef des Katholischen Kolping-Verbandes, ist dennoch optimistisch: „Das Thema ´Bürgergeld` ist ein programmatischer Meilenstein mit hoher Relevanz für die Union. Der Grundgedanke ist richtig. Das Bürgergeld ist keine Faulenzerprämie.“
