Statt gegen mal für Europa
Mit Pulse for Europe wächst eine EU-freundliche Bürgerbewegung. Sonntägliche Kundgebungen in 35 deutschen Städten plus einigen Nachbarländern. Tendenz: zunehmend.
10. Mär. 2017 –
„Freude, schöner Götterfunken!“ Und weiter? Wer kennt sie schon, die Europa-Hymne? Am nächsten Sonntag wollen sie das Lied singen, gemeinsam auf den Treppenstufen des Konzerthauses am Berliner Gendarmenmarkt. Friedrich Schiller, der Urheber des Textes, kann von seinem Denkmal herab zuschauen. Aber die Initiatoren von „Pulse of Europe“ werden Zettel verteilen müssen, damit der Gesang nicht zu kläglich ausfällt
Der Puls von Europa schlägt seit kurzem jeden Sonntagnachmittag auf dem zentralen Berliner Platz. Tendenz: kräftiger werdend. Am vergangenen Wochenende kamen unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 700 und 3.000 Leute. Sie versammelten sich unter blauen Europa-Fahnen und ebensolchen Luftballons. In 34 weiteren Städten, darunter Bremen, Erfurt, Heidelberg, Leipzig, Stuttgart und München war es ähnlich. In Belgien, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Portugal fanden ebenfalls Kundgebungen statt.
Acht Monate nach der Brexit-Abstimmung tritt damit eine Gegenbewegung auf, um der Europa-Skepsis vieler Bürger und der EU-Feindschaft der Rechten etwas entgegenzusetzen. Den Stein in's Wasser warfen Anfang des Jahres ein paar Leute um Rechtsanwalt Daniel Röder in Frankfurt/Main. Ein gemeinsamer Studienfreund rief dann vor vier Wochen den Berliner Anwalt Alexander Knigge an: „Du musst unbedingt mitmachen.“ Nun ist Knigge einer der zehn Organisatoren des Berliner Pulsschlages. „Wir wollen Europa als politische Union erhalten,“ sagt er. „Es geht darum, neue Emotionen für diese Idee zu wecken.“
Knigge hat seine Kanzlei auf der Friedrichstraße. Zu den sonntäglichen Kundgebungen kommen viele gutsituierte Leute. Lange Mäntel und dickgerahmte Brillen werden gerne getragen. Die Atmosphäre ist höflich-bürgerlich, man sagt „Entschuldigung“, wenn man durch die Reihen geht. Noch hat quasi jeder die Chance, am „offenen Mikrofon“ eine kurze Rede zu halten.
Man will Bürgerbewegung sein. Wobei diese auch schräge Vögel anlockt. Rechten, die sich als Helfer zur Verfügung stellen wollten, gab man den Laufpass. Ein Trupp Jungliberaler wurde überredet, sein FDP-Transparent wieder einzurollen. Knigge und die anderen legen großen Wert darauf, nicht zur Beute von Parteien zu werden. EU-Grünen-Abgeordneter Reinhard Bütikofer wurde zwar auf dem Gendarmenmarkt gesichtet, musste sich aber auf's Twittern beschränken.
Die Organisatoren wollen die Veranstaltungen auch programmatisch offen halten, um erstmal möglichst viele Interessierte anzusprechen. „Wir sind überzeugt, dass die Mehrzahl der Menschen an die Grundidee der Europäischen Union und ihre Weiterentwicklung glaubt und sie nicht nationalistischen Tendenzen opfern möchte“, heißt es auf der Internetseite.
Geht es denn etwas konkreter - braucht die Union beispielsweise eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, damit auch Bedürftige Vorteile haben? Knigge will sich nicht festlegen. Er sagt: „Ich wünsche mir, die Bürger der einzelnen Staaten würden solidarischer miteinander umgehen. Ein arbeitsloser Jugendlicher in Italien sollte uns doch genauso am Herzen liegen, wie einer in Niedersachsen.“
Und muss Europa demokratischer werden? „Wenn man über Reformen nachdenkt, muss man sicher auch mehr Rechte für das EU-Parlament erwägen“, sagt Initiator Röder. Diesen Gedanken weitergesponnen, ist man ziemlich schnell bei den Vereinigten Staaten von Europa. Dazu möchte Röder sich aber lieber nicht genauer äußern – sonst würden einige Teilnehmer gleich wieder das Weit suchen, befürchtet er.
Anfangs entstand der Eindruck, Pulse of Europe wolle nur bis zu den kommenden Wahlen in den Niederlanden und Frankreich durchhalten. Der relative Erfolg ändert die Lage jedoch. „Ich kann mir nicht vorstellen, nach den Wahlen einfach zu Hause zu bleiben“, so Knigge. Röder stimmt zu: „Wir werden danach weiter aktiv bleiben und überlegen uns, wie wir eine stabile Struktur aufbauen.“