Stromwechsel
Das Buch zur Energiewende
09. Mär. 2012 –
Kapitel 8
Die Heimat ist klein, die Bedrohung groß
Wie in der niedersächsischen Stadt Kreiensen die Energiewende auf massiven Widerstand stößt
Bei Wolfgang Schulze zuhause ist es gemütlich. Dicke rote Sessel beherrschen das Wohnzimmer, dunkles Holz prägt die Wände. Aber der Blick nach draußen hat etwas Beunruhigendes, findet der Hausherr.
Das bürgerliche Zweifamilienhaus aus den 1970er Jahren steht erhöht am Hang des Vorharzes und schaut über das Tal der Leine. Wer vom Balkon aus seinen Blick nach rechts wendet, sieht in geringer Entfernung ein Dutzend Stromkabel, die sich zwischen niedrigen Masten über die Nachbarhäuser hinwegschwingen. „Bahnstrom“, sagt Schulze, der pensionierte Eisenbahner: Elektrizität für die Zuglinie unten am Fluss. Links, 700 Meter entfernt, verläuft die Betontrasse der ICE-Strecke zwischen Hannover und München. Auf Dutzenden Pfeilern zieht sich die Brücke in einem weiten Bogen übers Tal.
Und jetzt wollen sie auch noch diese neue Leitung bauen. Vom Wohnzimmerfenster aus erklärt Schulze: Die Masten der Höchstspannungsleitung stünden dann doppelt so hoch im Tal wie die Schnellbahntrasse. Etwa 70 Meter in die Höhe würden sie ragen, ungefähr so viel wie ein Hochhaus mit 16 Stockwerken.
Deswegen kämpft Schulze, Jahrgang 1948, gegen den Bau der Stromleitung. Bundesregierung, Landesregierung und Betreiberfirma sagen, die rund 200 Kilometer lange Trasse, die bei Wahle in der Gegend von Braunschweig starten und bei Mecklar nahe dem hessischen Bad Hersfeld enden soll, sei notwendig, um Strom von Norddeutschland nach Süddeutschland zu leiten.
Doch Schulze und seine Mitstreiter glauben das nicht. Entlang der künftigen Trasse hat sich eine breite Protestbewegung entwickelt – wahrscheinlich diejenige mit dem größten Einfluss gegen ein Trassenprojekt in Deutschland. Rund 20 Bürgerinitiativen mobilisieren mittlerweile die Leute entlang der Strecke. Der Protest-Verein, den Schulze mitorganisiert, heißt „Bürger pro Erdkabel“.
„Wir sind keine Verhinderer“, sagt Peter Gosslar, der Vorsitzende. Natürlich werde Strom gebraucht, schließlich sei Deutschland ein moderner Staat. Aber diese neue Hochspannungsleitung? Nein, die lehne man ab. Der Verein hat schon viele öffentliche Protestaktionen veranstaltet. Vor allem geht es um die Strahlung, die die künftige 380-Kilovolt-Trasse aussenden würde, das Magnetfeld, den „Elektro-Smog“. Wie für fast alles in Deutschland gibt es zwar auch für diese Kraftfelder Grenzwerte und Abstandsregeln zu Wohnhäusern. Die Betreiberfirma Tennet muss beides einhalten. Aber es bleibt ein diffuses Unwohlsein.
Auf den Punkt bringt es Ralf Messerschmidt, der Kassenwart des Vereins, dessen Haus wenige Meter entfernt von der schon existierenden Bahnstrom-Leitung steht: Seine Frau sei vor Jahren an Krebs erkrankt. Auch in der Nachbarschaft gebe es mehrere Fälle der Krankheit. Wer weiß, ob die Ursache nicht der Strom sei, der tagein, tagaus über ihre Köpfe hinwegfließe? Über dieses medizinische Problem gibt es viele Kontroversen und wenige klare Aussagen. Auch der Verein „Bürger pro Erdkabel“ kann keinen Mediziner in den Zeugenstand rufen. Trotzdem fasst Wolfgang Schulze die Angelegenheit so zusammen: „Wir wollen keine Versuchskaninchen sein.“
Statt einer Überlandleitung an hohen Pfeilern verlangen die Kreienser, das Stromkabel auf mehr oder weniger der kompletten Länge unter die Erde zu legen. Aber Gosslar und seine Mitstreiter haben nicht den Eindruck, dass ihre Argumente im Planungsverfahren eine Rolle spielen – trotz zehntausender schriftlicher Einwendungen und öffentlicher Erörterung. „Das Unternehmen Tennet und die Landesregierung haben unsere Vorschläge völlig ignoriert. So werden wir allmählich zu Wutbürgern“, sagt der pensionierte Bahnbeamte Schulze. „Bildungswutbürger“, ergänzt Ex-Manager Gosslar feinsinnig.
Beide lieben ihre Heimat, die Landschaft, in der sie leben. Wenn sie über die Hügel spazieren, können die Blicke schweifen. Man sieht milde Wellen aus Kuppen, Hängen und Wäldern. Deutsches Mittelgebirge. Fachwerkhäuser in den Dörfern, im benachbarten Bad Gandersheim die Stiftskirche – ein dicker romanischer Bau mit kleinen Fenstern und burgähnlichen Türmen, rund 1100 Jahre alt. „Die Masten der Stromleitung wären doppelt so hoch wie der Kirchturm“, sagt Schulze. Die Heimat ist klein, die Bedrohung groß.
Koch/ Pötter/ Unfried
Stromwechsel
Westend/ taz
ISBN 978-3-86489-008-6
12,99 €
Gliederung
1. Die Zeit für die Stromwende ist da
2. Das intelligente Stromnetz kommt
3. Das ganz große Rad drehen
4. Die neuen Energieunternehmer
5. Kohle gegen Kohle
6. Dinosaurier sterben langsam
7. EnBW - vom Atomkonzern zum grünen Pionier
8. Demokratie als Stolperstein
9. Die Suche nach dem Klimagott
10. Der Kampf geht weiter