„Totengräber der Sozialen Marktwirtschaft“

Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann attackiert Vorstände und Manager: „Wer mit Gewinnmaximierung ernst macht, verletzt das Moralprinzip frontal und stellt sich außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft“

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Von Hannes Koch

21. Okt. 2009 –

Hannes Koch: In Ihrem neuen Buch „System Error“ greifen Sie die Unternehmen dort an, wo es für sie am schmerzhaftesten ist: beim Gewinn. Sie sagen, BMW-Vorstandschef Norbert Reithofer und andere Manager ließen sich von unverantwortlichen Gewinnzielen leiten. Was ist schlecht an hohen Gewinnen?


Ulrich Thielemann: Solche Gewinnziele sind Ausdruck einer neuen ökonomischen Radikalität. Viele Manager haben die Gewinnsteigerung ohne Grenzen zum Prinzip erhoben. Sie machen sich nicht mehr die Mühe, dieses Leitkriterium ethisch zu hinterfragen. Täten sie es, würden sie einsehen, dass der Gewinn nur ein Gesichtspunkt neben anderen sein kann und nicht zum alles überragenden Prinzip guter Unternehmensführung taugt.


Koch: BMW-Vorstand Reithofer peilt eine Kapitalrendite von bis zu 26 Prozent an. Das bedeutete: Wenn das Unternehmen eine Million Euro einsetzt, will man 260.000 Euro Gewinn pro Jahr erzielen – eine fantastische Rendite. Ärgert Sie die astronomische Höhe des Gewinnziels?


Thielemann: Man betätigt sich damit schlichtweg als Totengräber der sozialen Marktwirtschaft. Wer sich solch hohe Gewinnziele steckt, für den sind Mitarbeiter dann keine Mit-Arbeiter mehr, sondern nur noch Erfolgsfaktoren – oder eben Misserfolgsfaktoren. Dass dieser „Erfolg“ bei anderen Leid erzeugt, wird verdrängt und damit noch nicht einmal zu rechtfertigen versucht.


Koch: Die Absicht bei BMW oder der Deutschen Bank, Kapitalgewinne von 25 Prozent oder mehr zu erzielen, bildet doch aber die Ausnahme – oder sehen Sie eine verbreitete Tendenz?


Thielemann: Dass die Unternehmen buchstäblich alles daran setzen sollen, die Gewinne so hoch wie möglich zu treiben, dies stand bislang nur in den Lehrbüchern der Betriebswirtschaftslehre. Heute wird damit aber vielerorts ernst gemacht. So etwa beim finnischen Handy-Hersteller Nokia, der ganz ohne Not sein an sich profitables Werk in Bochum schloss und die Fertigung nach Rumänien verlagerte – weil man dort noch etwas mehr an Rendite herausholen kann.


Koch: Würden Sie diese Haltung als unbarmherzig gegenüber den Menschen beschreiben, die davon betroffen sind?


Thielemann: Wer mit Gewinnmaximierung ernst macht, verletzt das Moralprinzip frontal und stellt sich außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Das Moralprinzip ist elementar und lässt sich mit Immanuel Kant darin erblicken, „die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ zu behandeln. Wer tatsächlich Gewinnmaximierung betreibt und folglich beim Gewinnstreben jedes Maß verliert, behandelt Mitarbeiter nur noch „als Mittel“ für dieses Oberziel.


Koch: Die liberale Wirtschaftstheorie behauptet demgegenüber, dass für alle Menschen das Beste herauskomme, wenn jeder nur nach seinem eigenen Nutzen strebe. Richtig oder falsch?


Thielemann: Dies ist eine absurde Behauptung. Man unterschlägt dabei den elementaren volkswirtschaftlichen Tatbestand, den bereits Joseph Schumpeter herausgearbeitet hat, und den diese „liberalen“ Ökonomen ja eigentlich kennen sollten, nämlich dass der Wettbewerb ein Prozess „schöpferischer Zerstörung“ ist. Es gibt stets Gewinner und Verlierer. Meistens sieht man nur die Gewinner, „win-win“ eben, etwa die geschaffenen Arbeitsplätze, die schönen neuen Produkte, nicht aber die Verlierer. Heute tritt der Zusammenhang allerdings häufig sichtbar zu Tage, etwa wenn Entlassungen nicht etwa trotz hoher Gewinne erfolgen, sondern gerade um diese weiter zu steigern.


Koch: Haben die Beschäftigten, die ihre Stellen verlieren, nicht auch die Chance, neue Jobs in einem anderen Unternehmen zu finden – tritt damit unter dem Strich nicht doch ein Nutzen für alle ein?


Thielemann: Die Rede von Vorteilen „unter dem Strich“ ist ethischer Nonsens. So argumentiert der „Utilitarismus“. Dabei wird ein fiktiver Gesamtnutzen ausgerechnet und der Gewinn der einen gegen den Verlust der anderen verrechnet. Diese anderen sollen sich dann für einen abstrakten „Weltnutzen“ opfern. Damit wird das wirtschaftsethische Kernproblem, wie mit den Wettbewerbsverlierern umzugehen ist, die natürlich auch Rechte haben, von vornherein verfehlt.


Koch: Aber sind die Verlierer nicht in der Minderheit gegenüber den Gewinnern?


Thielemann: Ethisch betrachtet, ist es nicht zulässig, die Leiden der einen mit dem Vorteil der anderen zu rechtfertigen. Wer das macht, missachtet den Kants Kategorischen Imperativ. Wir sollten uns einfach klar werden, dass der Wettbewerb nicht einfach „den Konsumenten, der Allgemeinheit“ dient, sondern den Wettbewerbsfähigen und Marktmächtigen. Den Wettbewerbsverlierern kommt stattdessen die Kaufkraft abhanden.


Koch: Nun finden ja doch viele Leute wieder einen neuen Job. Zu den Verlierern zählen sie nur vorübergehend. Wo ist das Problem?


Thielemann: In den Zwängen, die solche Anpassungen mit sich bringen. Die Wettbewerbsintensität nimmt laufend zu. Ebenso der Stress. Wir müssen immer mehr ein Leben als Marktmenschen führen, sonst geraten wir auf die Verliererstraße. Ist dies noch ein gutes Leben? Soll denn das Leben im Ganzen auf den Markterfolg zugeschnitten werden? Und ist es fair, dass die besonders Gierigen mich dazu zwingen? Eine wirklich freie Gesellschaft sollte sich solche Fragen stellen.


Koch: Sehen Sie eine Möglichkeit, die Marktwirtschaft zu zivilisieren, ihre moralischen Defizite zu beheben und dafür zu sorgen, dass es keine Verlierer gibt?


Thielemann: Genau um eine solche Zivilisierung, um eine gemäßigte Marktwirtschaft, darum geht es. Man muss sich aber im Klaren sein, dass es, solange Markt und Wettbewerb existieren, Verlierer geben wird. Ja, gerade darin, dass diese Verlierer sich neue Einkommensquellen suchen müssen, liegt das Geheimnis des Wohlstands. Aber eben: sie müssen. Wettbewerb ist Zwang. Mir geht es darum, diesen Zwang und die damit verbundenen Härten nicht unter den Tisch zu kehren. Wir sollten zu einem erwachsenen Umgang mit dem „Marktmechanismus“ gelangen.


Koch: Wie wollen Sie das bewerkstelligen?


Thielemann: Das rechte Maß von Markt und Wettbewerb zu finden, ist in einer demokratischen Gesellschaft eine politische Aufgabe. Es geht dabei natürlich nicht darum, den Markt abzuschaffen, sondern darum, ihn ethisch zu durchdringen. Sicher lässt sich daher sagen, dass vom Prinzip der Gewinnmaximierung Abstand zu nehmen ist. Denn wenn die Akteure Gewinn- und Nutzenmaximierung betreiben, bleibt für ethische Überlegungen definitionsgemäß kein Platz mehr. Das ist ökonomischer Radikalismus. Und schließlich kann man ja auch erfolgreich sein, ohne alles daran zu setzen, so erfolgreich wie möglich zu sein. Natürlich sind Gewinne grösser Null unverzichtbar. Sonst geht ein Unternehmen pleite. Also: Gewinnstreben und Überschüsse grösser Null ja, Gewinnmaximierung nein. Damit wird der Gewinnaspekt zu einem Gesichtspunkt neben anderen herabgestuft. Und das Management ebenso wie die Beschäftigten könnten sich um gute Produkte, die Befriedigung von Kundenwünschen und echte Innovationen kümmern. Gemeinsam und fair. Das verstehe ich unter guter Unternehmensführung. Und ich denke, viele Unternehmen funktionieren so und sind damit erfolgreich, wenn auch nicht „maximal“ erfolgreich.


Koch: Mit Appellen alleine werden Sie diesen fundamentalen Wandel nicht einleiten. Vorstände, Manager, Banker und Kapitalbesitzer haben nicht die Absicht, ihre Vorteile einfach aus der Hand zu geben.


Thielemann: Ich warne davor, ethische Argumente gering zu schätzen – ich würde nicht von „Appellen“ sprechen, als ginge es da begründungsfrei zu. Argumente bewegen etwas, vor allem, wenn sie treffen und bestehende Ideologien alt aussehen lassen.


Koch: Was aber müsste praktisch passieren?


Thielemann: Natürlich reicht Individualethik allein nicht aus. Wir brauchen eine bessere Rahmenordnung für die Wirtschaft. Und zwar global. Deren Sinn ist allein der, dafür zu sorgen, dass der Verantwortungsbewusste im Wettbewerb nicht der Dumme ist.


Koch: Augenblicklich wird viel über die hohen Bonuszahlungen für Manager diskutiert, die teilweise auch im Falle von Verlusten fließen. Ist das eine Debatte, mit der Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück das Ungerechtigkeitsgefühl der Menschen nur vordergründig bekämpfen wollen oder verbirgt sich darin ein wirksamer Ansatzpunkt?


Thielemann: Die Boni sind ein Schlüssel. Sie sind ein Produkt der fatalen Allianz zwischen Aktionären und Managern. Letztere versprechen den Eigentümern fantastische Renditen und verschaffen sich die Möglichkeit der Partizipation an diesen Profiten. Würden Regierung und Bundestag dagegen die Boni begrenzen, eröffnete dies den Managern eine ganz neue Freiheit: Sie gewännen den Spielraum zurück, ihr Unternehmen integer zu führen.


Koch: Die Linkspartei schlägt vor, kein Manager solle mehr als das 20fache des Durchschnittslohns der Beschäftigten verdienen. Trauen Sie sich zu, eine Obergrenze für Bonuszahlungen zu nennen?


Thielemann: Es ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, auch nicht einer ethisch fundierten Wissenschaft, hier konkrete Grenzen vorzugeben. Die Wirtschaftsethik klärt vielmehr, warum Boni überhaupt problematisch sind. Wenn man dies verstanden hat, dann gelangt man zu einer sehr weitgehenden Boni-Beschränkung.


Koch: An welche Maßnahmen denken Sie noch, um das Prinzip der Gewinnmaximierung zu durchbrechen?


Thielemann: Schon in den 80er Jahren hat Peter Ulrich, der Begründer des St. Galler Ansatzes einer integrativen Wirtschaftsethik, das Leitbild der Unternehmung als einer „pluralistischen Wertschöpfungsveranstaltung“ entwickelt. Denn selbstverständlich haben nicht nur Aktionäre legitime Interessen, sondern auch Mitarbeiter, Konsumenten, Bürger, Umweltschützer und andere Interessengruppen, mit denen das Unternehmen zu tun hat. Deshalb wäre es vorstellbar, dass sie in die Führung und Kontrolle eingebunden werden. Im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft würde dann beispielsweise auch ein Verbraucheranwalt sitzen. Damit wäre das Prinzip der einseitigen Gewinnmaximierung entthront. Weil nicht mehr das Kapital, das heute noch als „Prinzipal“ gilt und sich entsprechend aufführen darf, alleine bestimmte, wäre das Unternehmen kein rein kapitalistisches mehr.



Ulrich Thielemann (Jg. 1961) lehrt und forscht an der Universität St. Gallen in der Schweiz und ist dort Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik. Gerade ist sein Buch „System Error – Warum der freie Markt zu Unfreiheit führt“ im Westend-Verlag, Frankfurt/M. erschienen.

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