Volksfest gegen TTIP

Zehntausende gingen am Samstag gegen das Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU auf die Straße. Sie fürchten das Ende von Umwelt- und Verbraucherstandards, wenn TTIP in Kraft tritt. Ihren Protest feierten sie mit Suppe, Currywurst und Popkonzert.

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12. Okt. 2015 –

Bevor es losgeht machen Ulrike und Hermann Schrempf noch eine kurze Verschnaufpause am Berliner Hauptbahnhof. Die Fahne mit der Aufschrift „TTIP und Ceta stoppen“ hängt am Rucksack, der Kaffee im Pappbecher wärmt die Hände. Kurz vor Mitternacht sind sie am Freitagabend in Stuttgart in den Sonderzug zur TTIP-Demo eingestiegen. Knapp sieben Stunden waren sie unterwegs. „Da waren bestimmt 700 bis 800 Leute dabei“, sagt Ulrike Schrempf.

 

An Schlafen konnten die beiden Rentner allerdings kaum denken. Auf dem Weg nach Berlin wurde schon gefeiert und diskutiert. Die TTIP-Gegner rechnen mit einer Verwässerung von Umwelt- und Sozialstandards, mit dem Ende der Kulturförderung, damit, dass mit dem Freihandel vor allem die Wirtschaft ihre Interessen durchsetzt. Angst vor dem Handelsabkommen zwischen den USA und der EU haben die Schrempfs zwar nicht, doch die Heimlichtuerei um den Vertrag macht sie wütend. „Das ist doch keine Demokratie mehr“, sagt Ulrike Schrempf. „Das geht doch nicht.“ Ihr Mann pflichtet ihr bei. „Die Parlamente haben nichts mehr zu sagen. Bei jedem anderen Vertrag müssen alle Karten auf den Tisch. Warum hier nicht?“


Die Schrempfs haben auf den Protestaufruf der Naturfreunde, von Foodwatch und Campact reagiert. Mit ihnen haben mehr als 170 Organisationen zum Widerstand gegen TTIP an diesem Samstag aufgerufen. Die Umwelt- und Sozialverbände sind dabei, Gewerkschaften, Kirchen, Parteien. Rund 250.000 Teilnehmer zählen die Veranstalter in Berlin. Die Polizei kommt auf rund 150.000 Demonstranten. Es sind in jedem Fall deutlich mehr gekommen, als selbst die Organisatoren erhofft hatten.


Längst gehen nicht nur linke Aktivisten gegen TTIP auf die Straße. Der Protest vereint sie mit der bürgerlichen Mitte. Auch die Schrempfs wirken eher wie Kulturtouristen, die in der Hauptstadt Bodemuseum und Nationalgalerie besuchen und nicht wie Globalisierungskritiker, die gegen Missstände Flagge zeigen.


Bei bestem Demo-Wetter – strahlendem Sonnenschein und erträglichen Herbsttemperaturen – marschieren sie vom Berliner Hauptbahnhof, an Kanzleramt und Brandenburger Tor vorbei bis zur Siegessäule. Einige Aktivisten tragen die Sozialpolitik symbolisch in einem Papp-Sarg zu Grabe. Andere haben sich als „böser Wolf“ oder Aasgeier verkleidet. Mit TTIP kommt die „Wirtschaftsdiktatur“ und „Demokratie und Menschenrechte nicht den Großkonzernen überlassen“ steht auf ihren Plakaten und Transparenten. Ein Mann hüpft verkleidet als lebender Maiskolben an der Spree entlang. „Mit dem Abkommen kommt der Genmais“, ruft er und verschwindet in der Menge.


Seit 2013 verhandeln die EU und die USA über eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Die nächste Verhandlungsrunde findet noch im Oktober in den USA statt. Bis Ende des Jahres soll der Vertrag stehen. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat am Samstag auf einer ganzen Seite in verschiedenen Tageszeitungen versucht, die Gegner zu beschwichtigen. Doch die Aktion kommt weder bei den Schrempfs noch bei den Mit-Demonstranten an. Das Rentnerpaar winkt bloß müde ab. Andere sind deutlicher: „Wer hat euch verraten? Sozialdemokraten!“ skandiert einer.


Der Protestzug endet an der Siegessäule. Entlang der Straße des 17. Juni haben sich Verbände und Parteien positioniert. Es gibt Luftballons, Currywurst, Bier und Suppe. Auch ein paar japanische Touristen haben sich auf die Anti-TTIP-Meile verirrt. Gegen was hier eigentlich protestiert wird, wissen sie nicht. Sie interessiert eher das kulinarische Angebot. „German beer and sausage“, sagen sie und lachen. Unweigerlich zucken ein paar Mitglieder der Reisegruppe zusammen, als die Berliner Band „Incredible Herrengedeck“ mit ihrem Bühnenprogramm beginnt. „T-TIP“, rufen die Bandmitglieder. „I- gitt“, antworten die Demonstranten. Riesige Lautsprecher beschallen die ganze Straße.


Marlene, Hannah und Nina sitzen wenige Meter von der Bühne entfernt auf dem Boden. „Club-Mate“ und Schokokekse machen die Runde. Mit Freunden sind sie am Morgen aus Hannover angereist. Die 16-Jährige Marlene ist zum ersten Mal bei einer Demonstration dabei. Warum ausgerechnet gegen TTIP? „Ich habe keine Lust auf Chlorhühnchen und Klonfleisch“, sagt sie. „Keiner weiß doch, was eigentlich hinter dem Abkommen steckt.“ Sie glaubt, dass der freie Handel zu noch mehr Ausbeutung in Entwicklungsländern führen wird. Und zu mehr Billigkonsum. „Die Leute kaufen immer mehr und brauchen das ganze Zeug eigentlich nicht.“ Außerdem ist das ganze eine „nette Party“. Sie findet es „total cool“, dass so viele Leute nach Berlin gekommen sind. Heute Abend wollen sie und ihre Freunde auf jeden Fall noch losziehen.


Mit so vielen Unterstützern hätten auch Ulrike und Hermann Schrempf nicht gerechnet. Direkt nach der Demo wollen sie wieder zurück nach Stuttgart. Immerhin liegen noch einige Stunden Bahnfahrt vor ihnen auf dem Weg in den Süden der Republik. Die Strapazen haben sie gerne auf sich genommen. „Ich selbst werde die Folgen von TTIP wohl nicht mehr erleben“, sagt Ulrike Schrempf. „Aber meine Kinder.“ Sie will sich nicht vorwerfen müssen, sie hätte sich nicht gegen das Abkommen für mehr freien Handel gestellt.




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