Vom Goldrausch zum Megakater

Am Neuen Markt verbrannten sich große und kleine Anleger vor 20 Jahren mächtig die Finger. 2017 will die Deutsche Börse wieder ein Segment für kleine und mittlere Unternehmen starten. Alte Fehler will die Börse vermeiden.

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Von Wolfgang Mulke

03. Jan. 2017 –

Viele der einst für Furore sorgenden Wachstumsfirmen sind in Vergessenheit geraten. Sie wurden mal als grandiose Vorreiter des Internetzeitalters gehandelt wie der zeitweilige Branchenliebling Pixelpark. Mal wollten sie wie Mobilcom mit Billigangeboten der Telekom Konkurrenz machen, mal wie EM.TV den Medienmarkt aufmischen. In der kurzen Lebenszeit des Börsensegments Neuer Markt schien der Traum real zu werden, aus dem Nichts durch clevere Technologien und Geschäftsmodelle Milliardenwerte zu schaffen. Es begann vor fast 20 Jahren, im März 2017. Und die Erinnerung daran wird bei vielen Anlegern von damals noch heute reichlich Ärger auslösen.

In kurzer Zeit drängten immer mehr junge Unternehmen an die Börse. Waren es zwischen 1987 und 1997 gerade einmal 16 Firmen, gab es allein in den drei folgenden Jahren 339 Erstnotizen in den Handelssälen. „Es war eine Art Goldrausch“, erinnert sich ein Börsianer. Die Tragfähigkeit der Geschäftsmodelle wurde praktisch nicht kontrolliert, die Wachstumsphantasien der Manager kaum hinterfragt. „Manche Firma bestand nur aus zwei Leuten, hatte kein operatives Geschäft und niemand wusste, was sie eigentlich machen“, sagt der Experte.

Doch die Aktienkurse stiegen trotz der Unwägbarkeiten rasant an. Denn immer mehr Anleger kauften die Wertpapiere blind. Gewinne von mehreren Hundert Prozent gegenüber dem Ausgabekurs waren nicht selten. Beim Rekordstand im Jahr 2000 kamen die 339 Unternehmen des Neuen Marktes zusammen auf einen Wert von 234 Milliarden Euro. „Die Leute haben so viel Geld eingesetzt, dass sich eine Blase bilden musste“, erläutert Franz-Josef Leven vom Deutschen Aktieninstitut (DAI) rückblickend. Die Zahl der Aktienbesitzer in Deutschland hat sich in dieser Phase verdoppelt. Fast jeder sechste zockte damals mit.

Das erste Alarmzeichen gab es nur zwei Monate nach dem Höchststand. Mit Gigabell musste das Börsensegment die erste Insolvenz des Neuen Marktes verkraften. Danach ging es bis zum Ende des Neuen Marktes steil bergab. Rund 200 Milliarden Euro verbrannten Anleger in dieser Zeit. Das Desaster hatte mehrere Gründe. Es mangelte vielen Firmen an einem nachhaltigen Konzept. Dazu fehlte die Kontrolle der Prognosen. Unerfahrene wie professionelle Anleger erfasste zudem die Gier nach schnellen Gewinnen. Und die Strukturen des Neuen Marktes ermöglichten kriminelle Machenschaften.

Die Liste der nachgewiesenen oder vermuteten Verfehlungen ist beeindruckend lang. Einer der Vorstände musste wegen gewerbsmäßigen Betrugs, Bilanzfälschung und Insiderhandel für siebe Jahre ins Gefängnis, der Chef der einstigen Vorzeigefirma EM.TV, Thomas Haffa, kam mit einer Geldstrafe davon. Immer wieder kamen Insidergeschäfte und Luftbuchungen für die Bilanz ans Licht. Das löste neben dem Kursturz am Ende auch einen bis heute anhaltenden Vertrauensverlust in den Aktienmarkt aus. „Diese Skepsis geben Eltern oft an ihre Kinder weiter“, bedauert der Sprecher der Deutschen Börse, Patrick Kalbhenn. Das Finanzwissen müsse im Schulunterricht verbessert werden.

Der Boom an der Börse hatte aber auch eine tiefere Ursache, den Glauben an einen stetig wachsende Wirtschaft ohne Inflation. „Damals herrschte eine extrem optimistische Ökonomiesicht vor“, sagt der Bremer Ökonom Rudolf Hickel. Wie beim Beginn der Weltwirtschaftskrise vor fast 100 Jahren habe die Illusion zugenommen, über Aktien an den Gewinnen der Wirtschaft teilhaben zu können. Das sieht Hickel als schweren Fehler an. „Übersehen wurde die für derartige Phasen neuer technologischer Schübe auftretende Spekulationswucht der Finanzmärkte“, stellt er fest. Die daraus entstehende Blase sei folgerichtig geplatzt. Die reale Produktion rückte damit wieder in den Mittelpunkt der Ökonomie.

Im kommenden März startet die Deutsche Börse wieder ein neues Börsensegment. Allerdings sollen sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. "Die Unternehmen brauchen ein Geschäftsmodell, dass sich bereits bewährt hat“, betont Kalbhenn. Drei von fün Kernbedingungen muss jede der Firmen erfüllen. Dazu zählen ein Mindestumsatz von zehn Millionen Euro, die Beschäftigung von 20 Mitarbeitern oder ein positives Eigenkapital. „Das wird dafür sorgen, dass keine Phantasiewerte an die Börse gehen“, hofft Leven. Der deutschen Wirtschaft soll damit der Zugang zu Kapital erleichtert werden. „Das Segment ermöglicht kleinen und mittleren Unternehmen, ins Blickfeld internationaler Investoren zu geraten", wirbt Kalbhenn um Vertrauen.

Einen Namen für das neue Segment haben die Frankfurter noch nicht bekannt gegeben. In einem Wettbewerb reichten die Teilnehmer über 500 Vorschläge ein. Bei den Favoriten klärt die Deutsche Börse nun die internationalen Markenrechte. Rechtzeitig vor dem Start soll die Prüfung abgeschlossen und der Sieger gekürt sein. Ein Name wird es laut Leven sicher nicht sein. „Das ist kein neuer Markt 2.0“, glaubt er.

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