Von der Atomeuphorie zum Freizeitpark

Deutschland verabschiedet sich von Strom aus Kernenergie

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Von Björn Hartmann

03. Apr. 2023 –

Am 15. April endet in Deutschland die Atom-Ära. Dann sollen die letzten drei Kraftwerke abgeschaltet werden. Vom ersten Atomminister über die Straßenschlachten am AKW Brokdorf und der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf bis zum Aus für die jetzt ungeliebten Anlagen dauerte es 68 Jahre.

Wann begann das Atomzeitalter in der Bundesrepublik?

Unter Kanzler Konrad Adenauer (CDU) begann die Bundesrepublik 1955, Reaktoren für den zivilen Gebrauch zu erforschen und zu entwickeln. Adenauer schuf ein Ministerium für Atomfragen. Erster Atomminister wurde Franz-Josef Strauß. Der CSU-Politiker entwickelte einen Plan für das deutsche Atomprogramm.

Und wann ist Schluss?

Das deutsche Atomgesetz sieht vor, dass die letzten drei noch laufenden Atomkraftwerke bis zum 15. April abgeschaltet werden müssen. Sehr viel länger reichen auch die Brennelemente an den Standorten Emsland (Niedersachsen), Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg) und Isar 2 (Bayern) nicht. Die Betreibergesellschaften Eon, RWE und EnBW haben sich längst von der Atomenergie verabschiedet, setzen auf erneuerbare Energien, Handel, Netze.

Warum werden die Kraftwerke abgeschaltet?

Nach den Protesten gegen die Atomkraft und vor allem nach dem Atomunfall in Tschernobyl 1986 wandelte sich die Stimmung in Deutschland. In Tschernobyl, damals in der Sowjetunion, explodierte der Reaktorblock 4, zehn Tage lang wurde Radioaktivität freigesetzt, verteilte sich über die Nordhalbkugel. Es gab Verbote, bestimmte Lebensmittel wie Pilze zu essen, in denen sich Radioaktivität sammelte. Große Flächen im Norden der heutigen Ukraine wurden unbewohnbar. Bis zum Atomausstieg dauerte es dennoch. Die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) beschloss ihn 2002. Acht Jahre später stoppte die CDU-FDP-Regierung unter Angela Merkel (CDU) den Ausstieg. 2011, nach dem schweren Reaktorunglück im japanischen Atomkraftwerk Fukushima, in dem es nach einem Tsunami zu einer Kernschmelze kam, beschloss die schwarz-rote Bundesregierung unter Merkel das endgültige Aus bis Ende 2022. Aus Angst vor einer Energiekrise in Deutschland als Folge des Ukraine-Kriegs verlängerte die Koalition aus SPD, Grünen und FDP unter Olaf Scholz (SPD) die Laufzeit einmalig bis zum 15. April 2023.

Wann startete die erste Anlage?

Der erste funktionsfähige Reaktor in Deutschland startete am 31. Oktober 1957 an der Technischen Universität München. Die wegen ihrer Form Atom-Ei genannte Forschungsanlage hatte eine Leistung von vier Megawatt und wurde bis Juli 2000 genutzt. Sie wird derzeit abgerissen. Erste Versuche, einen Reaktor zu bauen, gab es bereits Anfang der 40er-Jahre. Die Anlagen konnten aber keine sich erhaltende Kettenreaktion auslösen und somit keinen Strom erzeugen. Den ersten Strom aus Kernenergie speiste die Versuchsanlage Kahl am Main im nordwestlichsten Zipfel Bayerns 1962 ins deutsche Netz ein. Als letztes startete am 1. November 1989 Neckarwestheim 2.

Wie viele Anlagen waren in Betrieb?

Der World Nuclear Industry Report listet insgesamt 36 Reaktorblöcke in Deutschland auf, wobei allein Greifswald an der Ostsee, dem wichtigsten AKW-Standort der DDR, fünf standen. Bei sechs weiteren begann der Bau, sie gingen aber nie ans Netz, darunter drei in Greifswald, zwei in Stendal (Mecklenburg-Vorpommern) und der Schnelle Brüter in Kalkar am Niederrhein. 18 weitere Kraftwerksblöcke wurden geplant, aber nie gebaut. Am längsten liefen die AKW Biblis A und Obrigheim (Baden-Württemberg), Grundremmingen C (Bayern) sowie Grohnde in Niedersachsen mit je 37 Jahren. Die wenigste Zeit lief Greifswald 5: 23 Tage im November 1989.

Wie viel Strom haben die deutschen AKW erzeugt?

Hochzeit der Atomenergie waren die 90er- und 00er-Jahre. 1997 war ein Rekordjahr: Die Kraftwerke lieferten 30,8 Prozent des Stroms in Deutschland. 2022 waren es noch 6,5 Prozent.

Wie rund liefen die Anlagen?

Der erste Störfall der deutschen Atomgeschichte ereignete sich offenbar 1942 in Leipzig, als sich während eines Versuchs Wasserstoff bildete und explodierte. Seit AKW in Deutschland Strom erzeugen gab es Pannen. Insgesamt fast 6600 meldepflichtige Störfälle verzeichnet das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Base). Am anfälligsten war der Thorium-Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop (Nordrhein-Westfalen). In fünf Jahren gab es 125 Störfälle. Die wohl größte Panne war eine Wasserstoffexplosion im AKW Brunsbüttel 1991. Der Betrieb der deutschen Anlagen galt grundsätzlich als recht sicher. Große Mengen radioaktiver Strahlung wurden nicht freigesetzt.

Wie viel Atommüll muss gelagert werden?

Das Base geht von rund 27.000 Kubikmetern Kernbrennstoffen aus, die entsorgt werden müssen, wenn die letzten AKW abgeschaltet sind. Derzeit wird der stark strahlende Atommüll in Spezialbehältern an 16 Orten zwischengelagert, meist direkt auf dem Gelände ehemaliger Atomkraftwerke. Ein Endlager ist noch nicht gefunden. Das Verfahren läuft. Zuletzt hieß es, ein Standort werde wohl 2068 festgelegt. Schwach und mittelradioaktives Material, etwa vom Rückbau der Atomkraftwerke, wird zum Teil im Schacht Konrad in Niedersachsen gelagert werden.

Warum sind vor allem die Grünen Gegner der Atomkraft?

Eine wichtige Wurzel der Partei – zumindest im Westen – geht auf den Widerstand gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Wyhl am Kaiserstuhl in Baden-Württemberg Mitte der 70er-Jahre sowie den Protest gegen das Atommüllendlager Gorleben in Niedersachsen zurück. Unter anderem aus diesen Bürgerinitiativen entwickelte sich die Partei, die 1980 in Karlsruhe offiziell gegründet wurde.

Wie viele Anlagen wurden inzwischen abgerissen?

Die meisten abgeschalteten AKW werden inzwischen zurückgebaut. Besonders spektakulär: 2020 wurden die Kühltürme der Kraftwerke Philippsburg 1 und 2 südlich Mannheims gesprengt. Sie waren jahrzehntelang Landmarken im flachen Rheintal. Vier Anlagen stehen noch vor dem Abriss, drei sind vollständig beseitigt. Eine Kuriosität ist das Schiff Otto Hahn, benannt nach dem Entdecker der Kernspaltung. Es war von 1968 an unter deutscher Flagge mit Atomantrieb unterwegs. Der wirtschaftliche Durchbruch des Antriebs blieb aus, unter anderem wegen Sicherheitsbedenken in Häfen. 1979 wurde der Reaktor ausgebaut, das Schiff verkauft. Es wurde 2009 verschrottet.

Wann werden die letzten Atommeiler verschwunden sein?

Der Rückbau dauert, weil ein Atomkraftwerk wegen der Strahlung im Inneren nicht einfach abgerissen werden kann. Für große Anlagen sind teilweise mehr als 20 Jahre angesetzt. Im Idealfall sieht es hinterher so aus wie in Kahl. Eine Gedenkturbine vor grüner Wiese erinnert an das erste deutsche AKW, das Strom einspeiste. So soll es an anderen Standorten später auch einmal aussehen. Manche Gebäude lassen sich nach dem Rückbau auch weiter nutzen, etwa als Technologiepark. Eine Anlage bleibt garantiert stehen – zumindest zum Teil. Gebäude und Kühlturm des Schnellen Brüters in Kalkar sind inzwischen ein Freizeitpark.

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