• Illustration: Christoph Vieweg

Wir müssen Dich abschieben

Elf Monate lang wohnt ein junger Flüchtling bei uns. Wir sind erschöpft. Er will nicht ausziehen.

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Von Hannes Koch

18. Jul. 2017 –

„Ich möchte mit Ihnen nur eine Woche bleiben.“

„Bitta tötet mich nicht hier."

„Ich schwöre ich sterbe.“

„You killed me.“


Diese Whatsapp-Nachrichten schickt mir Karim auf mein Smartphone. Er ist 21 Jahre alt, Flüchtling aus der Stadt al Bab in Nordsyrien. Seit fast einem Jahr lebt er bei uns zu Hause.


Es ist Anfang April 2017. Er und ich sind in einander verhakt. Es geht nicht vor und nicht zurück. Das Leben zusammen ist nicht angenehm. Ich sehne das Ende seines Aufenthalts herbei. Gerade habe ich ihn zu der neuen Wohnung gefahren, in der wir ihm ab heute ein WG-Zimmer mieten.


Jetzt sitze ich vor der Tür im Auto. Wir kämpfen miteinander per Kurznachricht. Gehe ich wieder hoch, nehme ich ihn wieder mit? Ich fürchte, dass Karim sich etwas antut. Oder macht er nur Druck? Diese Geschichte muss ein Ende haben.


Mai 2016. Meine 19jährige Tochter ruft mich im Büro an. Sie habe heute Nacht im Club einen Flüchtling kennengelernt, der ein Bett brauche. Ja, sage ich, geht. Für ein paar Tage. Ob ich diese Einschränkung hinzugefügt oder mir eingebildet habe, weiß ich nicht. Als ich zu Hause eintreffe, hat meine Tochter in einer Ecke ihres Zimmers bereits eine Matratze hingelegt und bezogen. Kiste daneben, Leselampe drauf. Ihren Bruder hat sie nicht gefragt. Mein 16jähriger Sohn ist eben aus der Schule gekommen und unterhält sich mit Karim.


Er ist schüchtern. Wir sind schüchtern. Er setzt sich sich im Wohnzimmer auf die Kante des Sofas, klickt in seinem Smartphone rum. Ich bitte ihn in die Küche. Wir sitzen am Tisch. Er erzählt von al Bab, damals Gebiet der IS-Kämpfer. Zum Fastenbrechen 2015 verließ er sein Elternhaus, um Lebensmittel einzukaufen. Als er zurückkam, fand er nur noch Trümmer. Eine Rakete hatte eingeschlagen. Mutter, Vater und sein kleiner Bruder – tot. Nach der Beerdigung haute er ab - durch die Türkei, Schlauchboot nach Lesbos, Balkanroute, Deutschland, eine Kleinstadt bei Berlin. Er zeigt Fotos von seinen Verstorbenen. Was gibt es da zu sagen? Wir gehen in einen Biergarten etwas essen. Unterwegs hebt er ein Papier vom Bürgersteig auf und wirft es in einen Mülleimer. Patenter Typ.


Ich finde richtig, was ich tue. Ich fühle mich gut. Seit einem halben Jahr ist der große Run im Gange. Eine Million Flüchtlinge. Zu helfen erscheint naheliegend und nötig. Ich möchte daran teilhaben.


„Wie lange kann ich bei Euch bleiben?“, fragt Karim nach ein paar Tagen. „Bis wir eine Wohnung für Dich gefunden haben“, antworte ich. Abends bin ich bei Freunden eingeladen. Viele haben jetzt „einen Syrer“. „Unser Flüchtling hat gestern...“ - so beginnen die Erzählungen. Wir sind der Merkel-Fan-Club, obwohl wir nicht die CDU wählen.


Die Sache läuft. Im Land Brandenburg, angeblich Dunkeldeutschland, wurde Karim bürokratisch bestens versorgt. Er hat eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis, einen Personalausweis, einen Reisepass für den Schengenraum, eine Krankenversicherungskarte, Hartz IV erhält er vom Jobcenter. Und er darf arbeiten. Weil das Flüchtlingswohnheim, in dem er anfangs lebte, umgebaut wird, braucht er eine neue Bleibe. Wir melden ihn bei uns in Berlin an.


Der Unterricht im neuen Sprachkurs beginnt jeden Tag um 13.30 Uhr. Bevor ich morgens ins Büro fahre, wecke ich Karim. Er steht kurz auf, legt sich dann wieder hin. Komme ich nachmittags nach Hause, liegt er ebenfalls im Bett. Er schläft und schläft. Zwischendurch schaut er stundenlang in sein Smartphone, um Kontakt zu seiner verlorenen Welt, seinen Onkels, Tanten, Cousins, Cousinen und seinen Freunden zu halten, die ebenfalls auf der Flucht sind.


Er ist ein Sanfter, der den Harten gibt. Er trägt Armeehosen, fingerlose, schwarze Handschuhe, an der Halskette einen stilisierten Säbel aus Blech, das Schwert Mohammeds. Ins Fitness-Studio geht er regelmäßig. Gerne postet er auf Facebook Fotos von seinem Sixpack, worauf er hunderte Likes erhält. Freitag- und Samstagnacht feiert er durch in den Clubs an der Spree. Er findet nette Kumpels, die mit beiden Beinen im Leben stehen.


Mir bringt Karim ein bisschen Arabisch bei. Er erzählt von seinem Leben zu Hause, von den großen Familien. Man sei immer unter Verwandten und Freunden, ständige komme jemand zu Besuch. Er wundert sich über unser Alleine-Leben. Wir sind geschieden: Ich wohne in Berlin-Kreuzberg, meine Exfrau in Schöneberg. Unsere Kinder sind beide eine Woche bei mir, eine Woche bei ihr. Weil wir für eine weitere Person weder hier noch dort ein eigenes Zimmer haben, tauschen wir unseren Flüchtling im entgegengesetzten Rhythmus. Gemeinsam sind wir seine Ersatzfamilie.


Die arabisch sprechende Psychologin, die wir um Hilfe bitten, attestiert Karim eine Traumatisierung und Depression. Er schläft schlecht, klagt über Alpträume, die Bilder aus dem Krieg verfolgen ihn. Manchmal, wenn man ihn morgens weckt, schreckt er auf und sitzt kerzengerade im Bett. Sie sagt, wir müssten ihm Zeit geben, bis er zur Ruhe kommt. Ein langwieriger Prozess: Per Smartphone erfährt er, wenn wieder ein Cousin oder eine Tante in Syrien getötet wurde. Dann weint er. Ich lege meinen Arm um ihn und frage mich, ob es eine Selbstschutzstrategie wäre, wenn er die Kontakte zu seinem früheren Leben so lange komplett abbräche, bis er neuen Boden unter den Füßen hat.


Ich lerne ihn kennen, seine Marotten ebenfalls. Die Zuckerdose aus der Küche steht immer in seinem Zimmer, weil er sie nicht zurückbringt. Die Klobrille ist nass, wenn ich mich draufsetze, weil er statt Papier Wasser benutzt. Nach dem Duschen verstopfen seine schwarzen Haare das Abflusssieb und bleiben dort auch liegen. Nasse Handtücher wirft er in den Wäschekorb, wo sie vor sich hin modern. Gerne lässt er die Waschmaschine für zwei Paar Socken und drei Unterhosen laufen. In elf Monaten bei uns macht er zweimal die Wohnung sauber. Ich sage ihm, was mich stört. Es ändert sich wenig.


Religion interessiert ihn kaum. Nur selten breitet er, um niederzuknien, sein Tuch auf dem Boden aus. Seltsamerweise betet er nicht Richtung Mekka, sondern gen Süden. Ich mache Witze darüber. „Du bist ein Freizeitrassist“, empört sich meine Tochter. „Und Du hast gut reden“, entgegne ich, „Du hast den Typ angeschleppt, aber Mama und Papa erledigen die Arbeit.“


Eines Tages wundere ich mich, dass es so elegant duftet in unserer Küche. Ich gehe zum Badezimmerschrank und stelle fest, dass Karim mein Superteuerparfüm schon halb geleert hat. Er macht mir vor, wie die Mädchen vor Verzückung an seinem Hals hängen. Ich rege mich entsetzlich auf. Zahnbürste, Deo, Parfüm - privat! Muss man das wirklich erklären? Zwei Tage später wiederholt er seine Missetat. Ich drohe, ihn rauszuschmeißen.


Als ich ein Wochenende verreisen will, und Karim alleine in unserer Wohnung bleibt, ordne ich an: Keine Party! Nach meiner Rückkehr finde ich Plastiktüten mit leeren Flaschen im Abstellraum. Karim erklärt: draußen gesammelt wegen Pfand. Wir fahren sie zum Supermarkt. Ich merke immer noch nichts. Montags jedoch erzählen mir meine Nachbarn, dass er einen Haufen Leute einlud und das Haus solange beschallte, bis sie verlangten, er solle die Musik leiser drehen. Es kommt selten vor, dass ich rumschreie. Nun passiert es. Weil ich feststelle, dass er mich trickreich verarscht. Das kann ich mir von einem Erwachsenen, mit dem ich zusammenwohne, nicht bieten lassen. Es ist nicht nur eine Frage der Selbstachtung, sondern auch der Sicherheit. Mein Portemonnee liegt offen herum, meine Bankkarten, im Notizbuch stehen die Zugangscodes zum Konto. Zur Strafe für den Vertrauensbruch schicke ich ihn weg: „Morgen kannst Du wiederkommen.“ Meine Exfrau findet das angemessen.


Haben sich meine Kinder nicht ebenfalls manchen Scheiß geleistet? Bin ich ein selbstgerechter Erste-Welt-Sack, der sich nur gut fühlen, aber seine Komfortzone nicht verlassen will? Vielleicht. Was jedoch ist der eigentliche Grund, warum Karim mir allmählich auf die Nerven geht? Ein Teil der Antwort: Seit mehr als einem Jahr lebt er in Deutschland, ein halbes Jahr ist er schon bei uns, doch er steckt zum dritten Mal im Anfänger-Deutschkurs A1. Hausaufgaben machen? Fehlanzeige. Seine Sprachkenntnisse sind armselig und werden kaum besser. Er meint, er spreche schon ganz ordentlich. Ich: „Nein, du sprichst Scheiße Deutsch. Ich kann nicht normal mit Dir reden.“ Ich werfe ihm ein paar schnelle Sätze hin, um zu demonstrieren, dass er nichts versteht. Er versteht nichts. Ich fühle mich schlecht. Wahr bleibt dennoch: Karim ist stinkfaul. Das Hotel Papa-Mama ist eine prima Option. Er verhält sich wie unser Kater, Nahrungsaufnahme, schlafen.


Man könnte diese Geschichte so lesen: Eine Million Flüchtlinge kamen nach Deutschland, staatlicher Kontrollverlust, gesellschaftliche Überforderung, der Terror reiste mit ein. Jetzt, anderthalb Jahre später, bemerken wir die unerfreulichen Konsequenzen auch im privaten Umfeld. Die Deutschen wachen endlich auf.


Nein. Ich würde wieder einen Flüchtling aufnehmen. Vielleicht aber würde ich ihm gleich am Anfang sagen: vier Wochen Probezeit, dann entscheide ich, wie es weitergeht mit uns. Unsere Karim-Story hat bis jetzt kein gutes Ende. Trotzdem bleibt richtig, was im Sommer 2015 auch schon richtig war: Deutschland und Europa müssen Flüchtlinge aufnehmen. Wir können damit nicht die Welt retten. Grenzen auf für alle funktioniert nicht. Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz zur Steuerung der Migration und einen funktionierenden Grenzschutz.


Karim und wir – das ist keine gute Kombination. Ähnliche Geschichten verlaufen dagegen positiver. Zwei Nachbarinnen haben einen afghanischen Jungen aufgenommen, den die Regierung abschieben wollte. Nun macht er den mittleren Schulabschluss. Ein Freund hat einen jungen Mann aus Kamerun so weit unterstützt, dass dieser nun eine Ausbildung zum Busfahrer absolviert. Und wir kennen einige Syrer, die mittlerweile passabel Deutsch sprechen, in eigenen Wohnungen leben, ihren Weg gehen. Ihnen ist gemeinsam: Sie haben sich reingekniet und den Arsch zusammengekniffen.


Karim belügt mich mehr als ein Mal. „Warst du heute bis 14.00 Uhr in der Schule?“ - „Ja, natürlich.“ Ein paar Tage später ruft die Sprachschule an: Er nimmt sich regelmäßig die Freiheit, um 12.00 Uhr den Unterricht zu verlassen. Wieder und wieder reden wir mit ihm. Deutsch lernen – wichtig! Sonst keine Arbeit, kein Geld, keine Chance. Er sagt: Ja, ich lerne mehr. Nach zwei Tagen geht das Elend von vorne los.


Morgens muss ich ihn immer noch wecken. Viertel vor Acht. Eigentlich zu spät für die Schule. Der Sprachkurs beginnt um halb neun. Er schafft es nicht, sich selbst den Wecker zu stellen. Oder er vergisst es. „Ich kann nicht“, sagt er und hält sich den Kopf. Ich kenne diese Leier, gebe ihm fünf Minuten, gehe wieder hin und mache eine Ansage. Er steht auf, läuft mit zornigem Gesicht durch die Küche Richtung Badezimmer, kommt zurück, fängt an Tee zu bereiten, stellt Brot und Joghurt auf den Tisch. Ich: „Keine Zeit für Frühstück, geh jetzt.“ Mürrisch zieht er los.


Ich stelle fest, dass mein Vorrat an Mitleid sich erschöpft. Wie lange soll das alles dauern? Ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre? Wie lange soll ich ihm noch die Formulare ausfüllen? Jeden bürokratischen Schritt muss man für ihn erledigen, weil er sich für Lesen und Schreiben nicht interessiert.


Als meine erwachsene Tochter auszieht, nimmt sie ihr Meerschweinchen mit. Den Syrer lässt sie hier. Mein Sohn macht in diesen Wochen Abitur. Ich habe 20 Jahre Erziehung geleistet. Das war eine schöne Sache. Aber jetzt bin ich 55. Wenn ich nochmal eine Wohngemeinschaft aufmache, möchte ich mir die Mitbewohner selbst aussuchen.


In seiner Kolumne im Spiegel schreibt Jakob Augstein, „die Identität muss gegen die Migration errungen werden“. Er plädiert für den „Schutz der Heimat“. Starke und seltsame Gedanken für jemanden, der sich für links hält. Besonders in dieser Wortwahl finde ich sie gefährlich. Darin stecken jedoch Fragen, die unsere persönliche Flüchtlingsgeschichte betreffen. Was müssen die Flüchtlinge hier leisten, was sollen wir, die Alteingesessenen, ihnen abverlangen, wieviel Integration fordern wir?


Bundesinnenminister Thomas de Maizíère schreibt in seinen Thesen über die „Leitkultur für Deutschland“: „Wir sehen Bildung als Wert“. „Wir fordern Leistung.“ Ich mag den Begriff „Leitkultur“ nicht und finde den de Maizière-Katalog größtenteils schräg. Aber was Lernen betrifft, hat der Minister einen Punkt. Sagen wir es mal so: Wenn Karim sich selbst mehr Anstrengung abverlangen würde, käme er bei uns, in diesem Land und vermutlich auch bei sich selbst besser an.


Wie lange tolerieren wir also sein Phlegma? Inzwischen bringen wir es auf diesen Nenner: Er will den Schuss nicht hören. Traumatisiert? Ja, meinetwegen. Aber eben auch faul – und verwöhnt. Wahrscheinlich regelte Mama in Syrien alles für ihn. Normalerweise hätten seine Eltern eine Ehefrau gesucht. Dann macht die alles. Dieses Modell funktioniert bei uns nicht. Gemessen an unseren Maßstäbe legt Karim deutlich zu wenig Selbstverantwortlichkeit an den Tag.


Wir fühlen uns zunehmend überfordert, werden ungeduldig. Er geht uns auf die Nerven, und wir ihm. Unterhaltung zu Hause findet kaum noch statt. Wir versuchen, uns in der Wohnung möglichst wenig zu treffen. Eine Freundin, die zu Besuch kommt, sagt: Bei Euch ist es wie in einer zerrütteten Ehe.


Der sozialpsychiatrische Dienst des Bezirksamts kann uns nicht helfen. Ja, Karim sei traumatisiert. Nein, Plätze in betreuten Wohngemeinschaften stünden für Flüchtlinge nicht zur Verfügung. Wir müssen etwas tun und fassen den Plan, dass er Ende März 2017 ausziehen soll. Also wochenlange Wohnungssuche, Freunde und Bekannte fragen, Suchanzeigen aufgeben. Schließlich entdecken wir diese neue Internetseite, eine Art Airbnb für WG-Zimmer. Wir buchen eine Unterkunft ab 1. April.


Karim lehnt ab. Mit fünf fremden Menschen wolle er nicht zusammenleben. Außerdem sei die neue Wohnung zu weit von seiner Sprachschule entfernt. Die S-Bahn-Fahrt dorthin würde 25 Minuten dauern.


„Am Freitag holen wir den Schlüssel und am Samstag schaust Du Dir Wohnung an“, sage ich. „Nein“, antwortet er, „ich gehe jetzt.“

„Wohin?“

„Berlin ist groß.“


Gerade hat er sein Profilbild auf Whatsapp geändert. Man sieht ihn auf der Erde liegen, zugedeckt mit einem Roten Handtuch, zwischen zwei Gräbern, länglichen Hügeln aus kleinen Steinen, Findlinge als Grabsteine. Das müssen die Gräber seiner Eltern sein. Vor ein paar Wochen sah man dort das Bild seiner Mutter. Dann das seines getöteten kleinen Bruders.


Jetzt packt er seine Sachen. Ich nehme seine Schlüssel an mich. Große Plastiktüte, zwei kleine Koffer, seine Umhängetasche, so steht er im Flur. Danke für alles, sagt er, dreht sich um, öffnet, geht. Er ist so plötzlich weg, wie er kam. Schlechtes Gewissen? Vor allem bin ich erleichtert, ziehe das Bett ab, werfe die Joghurt, das Brot und seine Zahnbürste weg.


Einen Tag später ist er wieder da. Er hat die Nacht im Park verbracht. Wir nehmen ihn nochmal auf, nachdem er uns das Versprechen gegeben hat, am nächsten Samstag wirklich umzuziehen. Er sagt: Ihr seid meine Familie, in Syrien habe ich keine mehr. Ich bin glücklich bei Euch. Er weint, schleicht in sein Zimmer.


Samstag, ein warmer Frühlingsnachmittag: Ich lade Karim und seine Sachen ins Auto. Wir fahren nach Wilmersdorf. Das dauert 15 Minuten. Ordentliches Haus, 3. Stock, große Wohnung. Das Zimmer, das wir gemietet haben, ist okay, Küche und Bad aber sind dreckig.


„Das ist Scheiße“, protestiert er, „wenn ich hier bleibe, sterbe ich.“

„Drei Stunden putzen, Müll runterbringen, und es sieht gut aus.“


Sein Blick wird leer, er sackt auf einen Küchenstuhl, springt auf, nimmt ein Küchenmesser und spielt damit an seinem Handgelenk herum. Mir wird anders. Gleichzeitig denke ich: Wenn ich jetzt nachgebe und Karim wieder mitnehme - wie sollen wir diese Geschichte jemals zu Ende bringen? Ich ziehe die Tür zu und gehe die Treppen runter.


Nun sitze ich im Auto vor dem Haus. Halte ich es aus, wenn ich in die Gerichtsmedizin gerufen werde, um Karim zu identifizieren? Kann ich damit leben? Ich whatsappe ihm: „Was machst Du?“


„Ich kann nicht hier.“

„Nun ist die Krankheit zurück.“

„Jetzt habe ich sterben.“

„Ich bin Atemnot.“


30 Whatsapps dieser Sorte. Was mache ich jetzt? Ihn wieder mitnehmen? Wegfahren, Selbstmord riskieren? Er übt nur Druck aus, sage ich mir. Oder doch nicht, woher soll ich das wissen?


Ich rufe die 112 an. Sieben Minuten später kommen zwei Streifenwagen und der Notarzt. Sie fahren Karim in die Rettungsstelle des nahen Krankenhauses.


Ein fitter Psychiater nimmt sich eine Stunde Zeit. Er versucht herauszubekommen, warum Karim nicht in die neue Wohnung ziehen will, welches Problem dahintersteckt. Karim sagt, dass seine bösen Träume zurückkommen, wenn er dort bleibt. Seine Kopf würde explodieren.


Aus dem Arzt-Protokoll: „Der Patient sagt, dass er in der WG nicht bleiben könne. Es würde ihm dort zu schlecht gehen. Aufgrund der Sprachbarriere ist der genaue Grund nicht zu eruieren. Vermutlich im Rahmen einer posttraumatische Belastungsstörung. Dem Patient wird mehrfach eine stationäre Aufnahme angeboten. Er lehnt dies ab und sagt, er wolle dann lieber zurück nach Syrien gehen. Auch nach der Aufklärung über die Gefahr in Syrien sagt er, dass er dorthin zurückkehren wolle. Die Äußerungen haben gegenüber Herrn Koch erpresserischen Charakter. Von Suizidalität distanziert sich der Patient klar und glaubhaft. Kein Anhalt für akute Eigen- oder Fremdgefährdung.“


Die beiden letzten Sätze sind wichtig für mich. Wir verlassen die Notaufnahme. Ich sage Karim, er solle zu seiner Wohnung fahren, essen, duschen, schlafen, morgen könnten wir uns treffen. Er anwortet, er habe den Schlüssel weggeworfen. Das ist gelogen. Ich fahre nach Hause, alleine.


Heute, acht Wochen später. Wir haben sporadischen Kontakt. Ab und zu kommt eine Whatsapp. Wenn nötig kümmern wir uns um die Bürokratie. Anfangs hat er angeblich draußen geschlafen. Jetzt übernachtet er bei irgendwelchen Freunden, mal hier, mal da. Sein WG-Zimmer, das wir immer noch bezahlen, scheint er nicht zu nutzen. Den anderen Leuten erzählt er, wir hätten ihn rausgeschmissen.

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