Wohlstand wächst nicht, sondern stagniert

Grüne legen alternativen Jahreswohlstandsbericht vor. Wirtschaftsminister prognostiziert Wachstum von 1,7 Prozent. Welches ist der richtige Maßstab für Wohlstand?

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Von Hannes Koch

27. Jan. 2016 –

Deutschlands Wohlstand stagniert. Das ist das Ergebnis des ersten Jahreswohlstandsberichts, den die Grünen im Bundestag am Mittwoch vorgelegt haben. Damit relativiert die Partei die Aussage Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriels (SPD), der das Wachstum für 2016 auf 1,7 Prozent prognostiziert.

 

In ihrem Wohlstandsbericht analysieren die Grünen anhand von acht Indikatoren, wie sich Deutschland entwickelt. Sie betrachten den ökologischen Fußabdruck (negative Tendenz), die Artenvielfalt der Natur (negativ), den Anteil von Umweltschutzprodukten am Industrieexport (neutral), die Verteilung der Einkommen zwischen Armen und Reichen (negativ), den Bildungsstand der Bürger (positiv), die Wirtschaftsleistung (neutral), die Qualität der öffentlichen Ordnung (positiv) und die Lebenszufriedenheit der Bevölkerung (positiv).

 

Bei zwei neutralen, drei negativen und drei positiven Indikatoren ergibt sich ein neutrales Gesamtergebnis. Mit anderen Worten: Der Wohlstand der Deutschen ist in den vergangenen Jahren nicht gewachsen.

 

Zum Beispiel der ökologische Fußabdruck: In der Landwirtschaft verursacht die starke Düngung der Äcker und Felder, dass viel mehr Nitrat in den Boden gerät, als dieser verarbeiten kann. Grundwasser, Meere und Flüsse werden stark belastet. Die Qualität der Umwelt nimmt ab. Der Indikator zeigt deshalb ein negatives Ergebnis.

 

Beispiel Wirtschaftsleistung: Deutschland stellt zwar immer mehr Waren und Dienstleistungen her. Die Grünen sagen allerdings, dass man ökologische oder soziale Schäden, die dadurch entstehen, gegenrechnen muss. Unter dem Strich ist die Wirtschaftsleistung damit nicht gestiegen, sondern nur gleich geblieben.

 

Demgegenüber präsentierte Wirtschaftsminister Gabriel den traditionellen Jahreswirtschaftsbericht mit der Wachstumszahl. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – der Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen minus Vorleistungen – soll demnach 2016 preisbereinigt um 1,7 Prozent steigen. 2015 lag in einer ähnlichen Größenordnung. Die Prognose ist wegen der weltwirtschaftlichen Turbulenzen etwas pessimistischer als bisher. Trotz des starken Zuzugs von Flüchtlingen wird die Zahl der Arbeitslosen nur wenig zunehmen, meint das Wirtschaftsministerium. Ein großer Teil der Zuwanderer ist noch nicht in die Statistik aufgenommen. Außerdem steigt der Bedarf an Arbeitskräften, weil mehr Menschen einkaufen. Dieser expansive Effekt neutralisiert die Zunahme der Erwerbslosigkeit unter Migranten zum Teil.

 

Die Grünen betrachten die Fixierung auf die Zahl des Wirtschaftswachstums jedoch als einseitig. „Wir nehmen Abschied von der Magie einer einzelnen Zahl“, sagte Kerstin Andreae, Vizevorsitzende der grünen Bundestagsfraktion. „Gabriel blickt nur durch das Schlüsselloch. Unser Bericht ist breiter“, erklärte Fraktionschef Anton Hofreiter.

 

Der alternative Wohlstandsbericht baut auf den Ergebnissen einer Bundestagskommission auf, die während der vergangenen Regierungsperiode einen Katalog von Messgrößen entwickelt hat, um das BIP zu ergänzen. Eine Berichterstattung der Regierung anhand dieser Indikatoren gibt es bisher aber nicht. Die Grünen wollen nun Nägel mit Köpfen machen. Ihren Bericht erarbeitet haben die Wissenschaftler Roland Zieschank und Hans Diefenbacher. Besonders nach der Finanzkrise ab 2007 hatte sich der Eindruck verbreitet, BIP und Wirtschaftswachstum reichten nicht mehr aus, um den wahren Zustand einer Gesellschaft zu beschreiben.

 

Positiv entwickelte sich laut grünem Wohlstandsbericht die Bildungssituation, weil es den Schulen mittlerweile besser gelingt, soziale Nachteile auszugleichen. Der Indikator für „Governance“ zeigte ebenfalls nach oben: Die Verwaltung in Deutschland ist wenig korrupt, die Regierungen handeln effektiv und im Interesse der Bürger.

 

Das deutlichste Zeichen einer positiven Entwicklung ist schließlich die Lebenszufriedenheit der Bürger, die 2014 auf dem höchsten Stand der vergangenen 25 Jahre lag. Darin spiegelt sich unter anderem die geringe Arbeitslosigkeit. Die Auswirkungen des starken Zuzugs von Flüchtlingen sind noch nicht enthalten.

 

Info-Kasten

Arbeit 2016

Laut Jahreswirtschaftsbericht von Sigmar Gabriel wird die Beschäftigung in Deutschland 2016 erneut steigen: Nach einem Plus von 0,8 Prozent im Jahr 2015 werde sie in diesem Jahr um 0,9 Prozent zulegen. Die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer dürften 2016 um 2,6 Prozent zunehmen nach 2,9 Prozent im vergangenen Jahr. Schon im vergangenen Jahr sei mit rund 43 Millionen Erwerbstätigen zum neunten Mal in Folge ein Beschäftigungsrekord erreicht worden. Die Arbeitslosenquote werde bei einem weiteren Beschäftigungsanstieg wie 2015 auch im laufenden Jahr 6,4 Prozent betragen.

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