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Auf die Arbeitsgerichte rollt eine Klagewelle zu

Das Karlsruher Urteil zur Tarifeinheit verweist wichtige Entscheidungen an die Gerichte. Ganz zufrieden ist mit der Entscheidung des Verfassungsgerichtes keine Seite. Das Streikrecht der Spartengewerkschaften bleibt aber erhalten.

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Von Wolfgang Mulke

12. Jul. 2017 –

Der Bund muss beim Tarifeinheitsgesetz nachbessern. Das Bundesverfassungsgericht verlangt einen besseren Schutz der einzelner Berufsgruppen oder Branchen. Ansonsten halten die Karlsruher Richter die Regelung, nach der nur die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern für einen Betrieb verhandeln darf, kleinere Gewerkschaften deren Abschlüsse nur übernehmen dürfen, für verfassungsgemäß. Zwei der sechs Richter gaben jedoch ein Sondervotum ab. Für sie verstößt dieses Verbot konkurrierender Tarifverträge gegen das Grundgesetz.

Das höchste Gericht stellte zwei Punkte in den Mittelpunkt seiner Entscheidung. So erklärte Vizepräsident Ferdinand Kirchhof den Beteiligten, dass die Tarifeinheit mit der Verfassung grundsätzlich vereinbar sei. Es bleibt also in Kraft, zumindest bis zum 31. Dezember 2018. Denn zugleich verlangt sein Senat von der Bundesregierung bis zu diesem Termin zusätzliche Regeln, die den Schutz der Interessen von Kleingewerkschaften wie die der Piloten, Krankenhausärzte oder Lokführer sicherstellen. Ansonsten gilt künftig im Konfliktfall der Tarifvertrag eines Arbeitgebers mit der Gewerkschaft, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Bestehende andere Tarifverträge werden dadurch verdrängt, wie es juristisch genau heißt.

Gleichwohl bestätigte das Verfassungsgericht die im Artikel 9 des Grundgesetzes festgeschriebene Koalitionsfreiheit. Das heißt, Arbeitnehmer können sich zusammenschließen und ihre Interessen vertreten, auch durch einen Arbeitskampf. Dieses elementare Recht sahen die Kläger durch das Tarifeinheitsgesetz bedroht. Deshalb sehen sie im Urteil auch einen Teilerfolg. „Für die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) geht alles weiter wie bisher“, sagt deren Chef Claus Weselsky. Wenn die 2020 auslaufenden Vereinbarungen bei der Bahn nicht verlängert werden, kann die kampfeslustige GDL notfalls wieder mit Streiks ihre Forderungen untermauern.

Auch der Marburger Bund sieht sich bestätigt. „Mit dem heutigen Urteil wird der gewerkschaftliche Wettbewerb ausdrücklich geschützt“, erläutert der Vorsitzende der Ärztegewerkschaft, Rudolf Henke. Seine Organisation werde auch in Zukunft als eigenständige Gewerkschaft Tarifverträge mit Arbeitgebern im Gesundheitswesen abschließen. Der ebenfalls zu den Klägern zählende Deutsche Beamtenbund sieht das Streikrecht zwar nun auch als gesichert an, rechnet aber mit viel Arbeit für die Fachgerichte. Denn denen weisen die Karlsruher Richter wesentliche Aufgaben bei der Klärung von Konflikten konkurrierender Gewerkschaften zu. „Die Probleme bleiben“, befürchtet dbb-Chef Klaus Dauderstädt, der sogar eine Verschärfung des Wettbewerbs zwischen großen und kleinen Gewerkschaften heraufziehen sieht. Er erwägt nach einer Analyse der Urteilsbegründung sogar, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen.

Bis Fachleute die gesamte Begründung der Entscheidung verarbeitet haben, und daraus Schlussfolgerungen ziehen können, wird wohl noch eine Weile vergehen. Denn das Tarifrecht ist extrem komplex. So bleibt noch die Kernfrage offen, wie sich die wichtigste Regelung des Gesetzes in der Praxis auswirken wird, wenn die Bundesregierung es wie verlangt nachbessert. Dabei geht es um die Mitgliedermehrheit im Betrieb. Diese zu ermitteln, ist keine einfache Aufgabe. Die Arbeitgeber sollen nicht wissen, welcher Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft ist. Die Gewerkschaft muss ihre Stärke oder Schwäche auch nicht preisgeben. In der bisherigen Form sollen unabhängige Notare die Auszählung übernehmen. Karlsruhe will nun Arbeitsrichtern diesen Job überlassen.

Dies und eine zweite Vorgabe der Richter könnten zu jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen führen. Denn den Fachgerichten obliegt es auch zu klären, ob die Interessen der Minderheitsgewerkschaft bei Tarifverhandlungen angemessen berücksichtigt wurden. Ist dies nicht der Fall, gilt der Tarifvertrag der kleineren Konkurrenzgewerkschaft weiter. „Unzählige Prozesse drohen zu jahrelanger Rechtsunsicherheit zu führen“, befürchtet die stellvertretende Verdi-Chefin Andrea Kocsis. Und Gewerkschaften müssten ständig nachweisen, dass sie über eine Mehrheit verfügen – vor, während und nach Tarifverhandlungen.

Momentan hat das höchste Gericht also nur eine Unsicherheit gänzlich beseitigt. Der Gesetzgeber hat den Spielraum, die Tarifeinheit vorzugeben. Ob damit das Ziel des Gesetzes erreicht wird, Anreize für eine kooperative Lösung der Tarifkonkurrenz zu setzen, erscheint offen.

Auf diese Strategie setzt die Deutsche Bahn, deren beiden Hausgewerkschaften in einander in inniger Feindschaft verbunden sind. Personalvorstand Ulrich Weber ist in zähen Verhandlungen zuletzt ein tarifpolitisches Kunststück gelungen, das derlei Wettbewerb auch ohne den das Zwangsmittel Tarifeinheit zu allseits akzeptierten Ergebnissen führen kann. Dabei ist das Verteilungsvolumen für alle Beschäftigten gleich. Je nach Berufsgruppe oder Gewerkschaft werden einzelne Bausteine aber variabel gestaltet. „Die einen wollen eine Lohnerhöhung, die anderen weniger Arbeitszeit“, erläutert Weber das Baukastenprinzip des Tarifvertrages.

Auf diese Weise können berufsgruppenspezifische Interessen, die Spartengewerkschaften vornehmlich vertreten, in einen Vertrag für alle im Betrieb eingebunden werden. „Es könnte ein Weg sein“, hofft Weber auch auf einen weiteren Abschluss ohne Arbeitskampf nach Ablauf der geltenden Vereinbarung.

Bislang ist das Tarifeinheitsgesetz noch nie angewendet worden. Von einem Fall berichtet jetzt dbb-Chef Dauderstädt. Die Beamtengewerkschaft sei bei manchen Krankenkassen die Minderheitsgewerkschaft. Die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) habe angekündigt, dass sie sich nur mit der Mehrheitsgewerkschaft Verdi an den Verhandlungstisch setzen wolle. In diesem Fall müssten sich die viele Hoffnungen und Befürchtungen in Zusammenhang mit der Tarifeinheit erstmals an der Wirklichkeit messen lassen.

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