Auf die Selbstachtung kommt es an

Kommentar zu Dekadenz, Armut und Sozialstaatsdebatte von Hannes Koch

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Von Hannes Koch

17. Feb. 2010 –

Der materielle Anreiz als Triebfeder unserer Gesellschaft wird schwächer. Das ist die wesentliche Botschaft der neuen Zahlen zur Armut, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlicht hat. Für die Sozialstaatsdebatte, die FDP-Chef Westerwelle mit seinem Dekadenz-Vorwurf an die Adresse der Hartz-IV-Empfänger befeuert, heißt das: Er spricht einen heiklen Punkt an, kann aber keine Lösung präsentieren.


11,5 Millionen Menschen waren 2008 in Deutschland gemessen an ihrem Einkommen arm, hat das DIW ermittelt. Seit 1998 ist der Anteil der Armen an der Bevölkerung damit auf 14 Prozent gestiegen – trotz Wirtschaftsaufschwung. Eine wesentliche Ursache: Die Arbeitslöhne für viele Jobs sinken. „Niedriglohnsektor“ nennen das die Experten. Damit nimmt die Zahl derjenigen Menschen zu, die sich mit eigener Arbeit ähnlich schlecht stehen wie mit Hartz IV. Sie können ihre Lebenslage durch Berufstätigkeit kaum noch verbessern. Der materielle Anreiz, selbst für den Lebensunterhalt zu sorgen, wird schwächer. Und für eine zunehmende Anzahl von Menschen dürfte diese Triebfeder schon gänzlich ausgeleiert sein.


Das ist der politische Kern der aktuellen Sozialstaatsdebatte. Wenn Westerwelle Hartz-IV-Empfängern Dekadenz vorwirft, sagt er: Die Leute bekommen zu viel Geld vom Staat. Hat er damit Recht? Im Einzelfall vielleicht ja, generell nein, denn die Leistungen bemessen sich am Sozialstaatsgebot. Gerade erst hat das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf ein angemessenes Existenzminimum formuliert. Der Weg, die Leistungen flächendeckend zu kürzen, ist damit versperrt.


Um den materiellen Anreiz wieder zu stärken, könnte man umgekehrt auch die Arbeitslöhne erhöhen. Dies ist der Sinn der Forderung nach Mindestlöhnen, die Linke, Gewerkschaften, Sozialdemokraten, Grüne und neuerdings auch der Aufsichtsrat der Discounter-Kette Lidl erheben. Das kann man versuchen. Fraglich allerdings erscheint die Wirkung. In einer heterogenen Dienstleistungsökonomie mit allen Arten von Teilzeitjobs und individuell zugeschnittenen Jobmodellen, die die Leute ja auch verlangen, wird es immer Beschäftigte geben, die quasi für jeden Lohn arbeiten. Der beunruhigende Befund lautet deshalb: Das gesetzliche Lohnabstandsgebot – der Arbeitslohn soll wesentlich über der staatlichen Unterstützung liegen – funktioniert oft nicht mehr.


Was bleibt? Wir müssen uns damit arrangieren, dass das der materielle Anreiz für viele Menschen keine ausreichende Triebfeder mehr darstellen kann. Es hat deshalb auch keinen Sinn, die Leute mit der staatlichen Drohung weiterer Verarmung zur Arbeit zu zwingen. Sie haben schlicht die freie Wahl: Arbeite ich oder lasse ich es? Nur die Selbstachtung spielt noch eine Rolle dafür, wie man sich entscheidet.


Sind wir also dabei, in das Reich der Freiheit einzutreten, merken es nur nicht? Angesichts der kärglichen Einkommen, die hier in Rede stehen, klingt das zynisch. Aber ganz falsch ist Begriff nicht. Götz Werner, Eigentümer der Drogeriekette dm, plädiert für sein Modell des Grundeinkommens als Alternative zur traditionellen Sozialversorgung. Jedem Bürger, so Werner, solle der Staat das Recht auf ein arbeitsloses Grundeinkommen gewähren. Wer die freie Wahl der Bürger für oder gegen Arbeit notgedrungen akzeptiert, wird diese Idee interessant finden. Für viele Menschen liegt die Zukunft in der Kombination staatlicher und privater Einkommen - ob man das nun Grundeinkommen nennt, Kombilohn oder Bürgergeld.

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