Aus dem Autoland wird das Fahrradland

Seltsamer Wandel

Teilen!

Von Wolfgang Mulke

19. Okt. 2012 –

Der „Benz Patent-Motorwagen Nummer 1“ hat Adel und Fußvolk im Deutschen Reich 1885 zu Kommentaren angetrieben. „Das Auto hat keine Zukunft“, soll Kaiser-Wilhelm II. gesagt haben, „ich setze auf das Pferd.“ Mit dieser Einschätzung lag der Regent schwer daneben. Denn die Erfindung des Schwaben Carl Benz läutete den Beginn der motorisierte Ära an. Und aus der vermeintlichen Spielerei des Tüftlers wurde im Verlauf der letzten fast 130 Jahre der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes. Deutschland lebt vom Automobil. Jeder siebente Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt vom Fahrzeugbau ab. VW, Daimler Benz, BMW oder Audi sind Glanzlichter der Industrie und fertigen weltweit begehrte Modelle. Mehr als 700.000 Arbeitsplätze hängen allein an der Produktion, die den großen Unternehmen im vergangenen Jahr 351 Milliarden Euro Umsatz einbrachten. Das Auto gehört auch zur Standardausstattung der privaten Haushalte. Über 40 Millionen Pkw sind in Deutschland zugelassen.


Doch im Mutterland des Automobils findet eine stille Revolution statt. Immer mehr Menschen verzichten freiwillig auf einen eigenen Wagen und steigen auf das Fahrrad um. Insbesondere in den Ballungsgebieten treten die Bürger zunehmend in die Pedale, weil sie sich über hohe Benzinpreise, Staus und fehlende Parkmöglichkeiten zu ärgern. In manchen Städten könnte das Auto sogar seine Vormachtstellung ganz einbüßen. In der Ostsee-Stadt Greifswald legen die Einwohner zum Beispiel 44 Prozent aller Fahrten mit dem Rad zurück. Das ist der aktuelle Spitzenwert.


Vorbei sind die Zeiten, in denen Radfahren als Mobilitätsangebot für Arme galt. Ein schickes Rad gehört zum Lifestyle. Während sich der wachsende Mittelstand in China oder Indien gerade in die automobile Welt aufmacht, ziehen sich die Deutschen daraus zurück. Zwischen 300 und 500 Millionen Fahrräder werden zum Beispiel den 1,4 Milliarden Chinesen zugeschrieben. Der Blick in den Städte zeigt, dass die Infrastruktur schon jetzt mit dem wachsenden Autoverkehr überfordert ist. In Peking werden jährlich eine Million Fahrzeuge neu angemeldet, ohne dass der Straßenbau hinterher kommt. Der Lerneffekt durch die Nachteile des Individualverkehrs steht noch aus. Modern ist heute das Leben ohne Auto.


Insbesondere junge Leute verzichten auf die Wohlstandsquelle Automobil. Ausgerechnet in Stuttgart, wo mit Porsche und Daimler wichtige Schmieden für edle Luxuskarossen ansässig sind, steigen sie auf das Fahrrad um. Seit dem Jahr 2000 verringerte sich der Anteil der unter 25-jährigen mit eigenem Fahrzeug um 63 Prozent. Auch in der Hauptstadt Berlin zählt das eigene Auto längst nicht mehr zu den wichtigsten Statussymbolen. Nur jeder dritte Berliner verfügt über einen Wagen, so wenig wie nirgendwo sonst im Land.


Die Abkehr von der motorisierten Mobilität hat viele Gründe. Zu den harten Fakten gehören die hohen Kosten für den Kauf und Betrieb eines Autos. Der Benzinpreis erklimmt derzeit nahezu wöchentlich neue Rekordwerte. Das fördert die Suche nach preiswerten Alternativen. Zumal die Fahrt in den Städten alles andere als vergnüglich und verlässlich ist. Die Straßen sind häufig verstopft, der Verkehr sorgt für permanenten Lärm und schlechte Luft. Darüber schauten die Deutschen jahrzehntelang hinweg. Doch jetzt, da der Individualverkehr auch mit dem Imageproblem als Klimakiller kämpft, werden die Nachteile der Freiheit auf Rädern verstärkt wahrgenommen. Umfragen belegen den Trend. Nur ein Viertel der jungen Deutschen kann einen Monat ohne Internet auskommen. Auf das Auto würden dagegen 60 Prozent leicht verzichten.


Rein statistisch kann das Rad mit dem Auto schon lange mithalten. 70 Millionen Fahrräder besitzen die privaten Haushalte. 800.000 könnten nach einer Schätzung des Fahrradverbands ADFC jährlich hinzu kommen, wenn die Infrastruktur für den Radverkehr noch besser wäre. Dabei geben sich viele Kommunen jede erdenkliche Mühe, ihre Städte fahrradfreundlicher zu gestalten. Zweispurige Straßen wird es in Berlin beispielsweise in einigen Jahren nicht mehr geben. Die Stadtverwaltung nimmt dem Autoverkehr nach und nach den Raum und richtet dafür Fahrradspuren ein. Auch Schnellwege für fixe Radler sollen im ganzen Land entstehen. Die Fachleute sind sich einig in der Einschätzung, dass der Trend noch lange anhalten wird. Denn immer mehr ersetzt das Fahrrad auch da Auto als Prestigeobjekt. Für edle Drahtesel legen die Kunden immer häufiger ein paar tausend Euro auf den Tisch. Hinzu kommt die zunehmende Verbreitung von Elektrofahrrädern, die Fahrten über größere Distanzen erleichtern und damit den Verkehrsanteil des Rades weiter erhöhen. 2010 verkauften die Hersteller 200.000 Stück, in diesem Jahr werden es schon 400.000 sein, mit weiter steigender Tendenz. Radfahren ist Lifestyle geworden im Erfinderland des Automobils.


In den Vorstandsetagen von Daimler, BMW und VW ist die Botschaft der Konsumenten längst angekommen. Mit günstigen Car-Sharing Angeboten ködern sie die städtische Bevölkerung. Doch besonders rosig erscheinen die Aussichten dennoch nicht. Während die Bevölkerung in den Schwellenländern noch vom Fahrrad auf das Auto umsteigt und kräftig deutsche Modelle nachfragt, schrumpft der heimische Markt langsam aber sicher zusammen.







« Zurück | Nachrichten »