Bürgerbeteiligung ohne Bürger

Jeder kann in die Planung der neuen Stromtrassen eingreifen, aber fast niemand tut es. Ein Praxischeck

Teilen!

Von Hannes Koch

24. Jul. 2013 –

Eigentlich könnten die Bürger jetzt mal richtig Alarm machen. Und auch etwas erreichen. Tun sie aber nicht. Bei dieser Dialogveranstaltung zum Bau der neuen Stromleitungen durch Deutschland sind nur zwei Personen erschienen, die ihre Interessen selbst vertreten. Die übrigen 100 Anwesenden arbeiten bei Energieunternehmen, Ministerien, Naturschutzbehörden oder Verbänden.

 

Die Jerusalemkirche in Berlin, ein klarer, heller Raum aus den 1960er Jahren: Vorne haben die vier Netzfirmen, die die Höchtspannungsleitungen betreiben, ein Podium mit Blumen aufgebaut. Mittagsessen gibt es ebenso, die Organisatoren kümmern sich. Die Veranstaltung ist Teil eines erstaunlich demokratischen Verfahrens, an dem grundsätzlich alle Einwohner dieses Landes teilnehmen können. Und es geht um etwas: Als Ergebnis des bisherigen Planungs- und Beteiligungsverfahrens wurde eine von vier neuen Nord-Süd-Stromtrassen erstmal verschoben.

 

Warum kommen dann so wenige Bürger? Weiß man nicht spätestens seit dem Aufruhr um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, dass die potenziell Betroffenen sich schon Jahre vor dem Baubeginn engagieren sollten, wollen sie nicht zu Wutbürgern mutieren?

 

„Es ist eine Überforderung“, sagt Hartmut Lindner, einer der beiden Vertreter von Bürgerinitiativen, die den Weg in die Jerusalemkirche gefunden haben. Graue Haare, weißer Vollbart, den Anstecker seiner Initiative am Hemd – der pensionierte Gymnasiallehrer aus Senftenhütte 75 Kilometer nordöstlich von Berlin kämpft gegen eine geplante Höchstspannungsleitung. Viele der im Naturpark Schorfheide-Chorin lebenden Vögel könnten gegen die Starkstromkabel fliegen und sterben, befürchtet Lindner.

 

Als Pensionär habe er zwar Zeit, sagt Lindner, dennoch sei das Verfahren der Bürgerbeteiligung so komplex, dass es eigentlich nur mit einer „Vollzeitstelle“ zu bewältigen sei. Jedes Jahr müssen die Netzfirmen das komplette Leitungsnetz neu berechnen und der Öffentlichkeit zur Konsultation vorlegen. Nach mehreren Beteiligungsschleifen, bei der jeder Bürger Einwendungen einreichen kann, entscheidet die Bundesnetzagentur. Ist der Plan für dieses Jahr fertig, kommt schon der Entwurf für 2014 (siehe Kasten).

 

Schon beim Netzentwicklungsplan 2012 war die Zahl der Einwendungen aus der Bevölkerung nicht überwältigend. Rund 2.000 Leute schickten Mails oder Briefe an die Netzfirmen. Zum Plan 2013 gingen bislang erst 500 Stellungnahmen ein. Auch Hartmut Lindners Initiative hat diesmal darauf verzichtet: „Wir müssen mit unseren Kräften haushalten.“ Die Netzbetreiber sind einerseits froh, weil sie weniger Arbeit haben, die Bürgerbriefe zu beantworten. Aber man wundert sich auch: Trotz des Angebots der frühen Beteiligung würden sich die Leute offenbar erst bewegen, wenn die Bagger kommen.

 

Glücklicherweise gibt es die professionellen Repräsentanten aus den Umweltverbänden. In der Jerusalemkirche sind unter anderem VertreterInnen von Greenpeace und der Deutschen Umhilfhilfe erschienen. Ihr zentrales Argument bringt Katja Rottmann von Germanwatch auf den Punkt: „Der Netzausbau erscheint uns überdimensioniert.“ Die tausenden Kilometer neuer und ausgebauter Stromtrassen seien nicht in vollem Umfang nötig – und schon gar nicht in den nächsten paar Jahren. Begründung: Die Windparks auf Nord- und Ostsee zu errichten und anzuschließen, dauere länger als geplant. Demzufolge könne man sich mit dem Bau der zusätzlichen Nord-Süd-Leitungen mehr Zeit lassen. Außerdem argwöhnen die Verbände, dass ein Teil der neuen Trassen dem Transport von zusätzlichem Strom aus Kohlekraftwerken dienen solle. Das stehe im Widerspruch zum Ziel der Bundesregierung, den Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid zu reduzieren, kritisiert Gerd Rosenkranz von der Deutschen Umwelthilfe.

 

Dem hält Marius Strecker vom Netzbetreiber Tennet entgegen, das Stromnetz der Zukunft müsse „engpassfrei“ sein. Soll heißen: Grundsätzlich sei der Auftrag, jede produzierte Kilowattstunde Strom zu transportieren – egal, ob aus Wind-, Sonnen- oder Braunkohlekraftwerken. Allerdings kommen den Netzbetreibern mittlerweile auch selbst Zweifel an diesem Anspruch. Schließlich verursachen Leitungen, die man später vielleicht nicht braucht, nur unnötige Kosten.

 

Angesichts der Kritik der Umweltverbände: Dient das angeblich so bürgerfreundliche Verfahren doch wieder nur dazu, einer zentral entworfenen Energiepolitik den Schein demokratischer Legitimation zu verschaffen? Könnten die Bürger, wenn sie denn wollten, tatsächlich mitentscheiden? Die Netzbetreiber müssen zwar nicht jede Einwendung berücksichtigen. Aber grundsätzlich lässt sich im Verfahren doch etwas bewegen. So hat die Bundesnetzagentur nach der Bürgerkritik am Netzentwicklungsplan 2012 entschieden, einen Trassenkorridor von Niedersachsen nach Hessen einstweilen in die Zukunft zu verschieben. Und jetzt müssen die Netzbetreiber prüfen, ob es sinnvoll ist, jede hergestellte Kilowattstunde Strom auch wirklich zu transportieren. Absehbar ist aber auch: Sehr viele Bürger, die das Verfahren jetzt ignorieren, werden später die Politiker beschimpfen – weil sie völlig überrascht wurden.

 

Info-Kasten

Das Verfahren

Grundsätzlich können alle Bürger jedes Jahr dreimal schriftlich oder persönlich in die Planung für den Stromtrassenbau eingreifen. Im „Szenariorahmen“ geht es zum Beispiel um die Strommengen, die die unterschiedlichen Energieträger liefern sollen. Beim ersten und zweiten Entwurf des Netzentwicklungsplans stehen die künftigen Leitungen im Mittelpunkt. Umweltverbände, Netzbetreiber und Netzagentur überlegen gegenwärtig, ob dieses engmaschige Verfahren nicht zuviel des Guten ist und nur alle zwei oder drei Jahre stattfinden sollte. Festgelegt hat es die Merkel-Regierung im Energiewirtschaftsgesetz.

« Zurück | Nachrichten »