Bundeskanzlerin Merkel bittet um Verzeihung für Morde

Das offizielle Deutschland hat ein schlechtes Gewissen. Gedenkfeier für Opfer von Rechtsterroristen

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Von Hannes Koch

23. Feb. 2012 –

Stillstand in Deutschland? „Wenn wir ein lauschiges Plätzchen finden, halten wir an“, sagt der Fahrer des gelben Nahverkehrsbusses. Schon kommt die Ansage aus dem Lautsprecher: „Die Berliner Verkehrsbetriebe beteiligen sich an der Schweigeminute.“ Donnerstag, 11.59 Uhr: Der Bus fährt rechts ran, Türen auf, Motor aus.


Um die Ecke auf dem Bundestag wehen die Europa- und die Deutschland-Flaggen auf Halbmast. Und im klassizistischen Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt beginnt die offizielle Gedenkveranstaltung für die zehn Menschen, die Rechtsterroristen der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ seit dem Jahr 2000 mutmaßlich ermordeten.


Eine derart hochrangig besetzte Veranstaltung gegen Ausländerfeindlichkeit gab es in Deutschland noch nie. In der mit rund 1.200 Personen ausgebuchten Konzerthalle erscheinen unter anderem das amtierende Staatsoberhaupt Horst Seehofer, zwölf Minister und Ministerinnen der Bundesregierung, sowie zahlreiche Prominente aus Wirtschaft und Kultur.


Umrahmt von Musik- und Gedichtvorträgen hält Bundeskanzlerin Angela Merkel die Hauptrede, anstelle des zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff. Der Ton dieser Ansprache ist ebenfalls neu. Merkel nennt zunächst jeden der zehn Ermordeten – acht deutsch-türkische, einen deutsch-griechischen Bürger und eine Polizistin – mit Namen und beschreibt jeweils einige biografische Details. Dann wendet sie sich an die Angehörigen: „Ich bitte Sie um Verzeihung. Sie stehen mit Ihrer Trauer nicht mehr allein.“


Die Mordserie bezeichnet Merkel als „Schande“ und „Anschlag auf unser Land“. Das Grundgesetz garantiere die Menschenwürde als „unantastbar“. Sie ruft die deutsche Gesellschaft auf, Rassismus schon im Ansatz zu bekämpfen. „Wann immer es zu Ausgrenzung kommt, werden die Werte des Grundgesetzes verletzt“, so Merkel. Im Alltag notwendig sei ein „waches Gespür, wann Verachtung von Menschen beginnt. Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.“


Nach Merkel kommt Semiya Simsek, die Tochter des im Jahr 2000 von den Rechtsradikalen erschossenen Nürnberger Blumenhändlers Enver Simsek, auf die spezielle Situation der Angehörigen zu sprechen: „Elf Jahre durften wir nicht reinen Gewissens Opfer sein.“ Sie spielt darauf an, dass Polizei und Geheimdienste die Morde lange Zeit als so genannte „Dönermorde“ einstuften – Taten eines kriminellen Immigrantenmilieus. Auch ihre eigene Mutter sei verdächtigt worden, so Simsek: „Können Sie erahnen, was das bedeutet?“


So hat das offizielle Deutschland etwas gut zu machen. Diese Erkenntnis führte zum Paradigmenwechsel im öffentlichen Gedenken. Der ehemalige CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl hatte einen Besuch bei den Opfern des rechtsradikalen Anschlages von Solingen 1993 noch als „Beileidstourismus“ abgelehnt. Nun sieht die Bundesregierung solche Taten als Anschlag auf die „Weltoffenheit, der Deutschland einen guten Teil seines Wohlstandes zu verdanken hat“, wie Merkel formuliert.


Trotzdem melden sich auch heute Kritiker der offiziellen Linie zu Wort. So legt Ombudsfrau Barbara John den Behörden „eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern“ zur Last. Dringend mahnt sie Verbesserungen in der Polizeiausbildung und bei der Zusammenarbeit der Ermittler an. Pädagogik-Professor Micha Brumlik von der Universität Frankfurt/ Main plädiert dafür, Zuwanderern den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Und Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, fordert einen Anti-Rassismus-Beauftragten auf Bundesebene.


Die Schweigeminute in dem gelben Berliner Bus ist schnell vorbei. Motor an, Türen zu, es geht weiter. Drumherum auf der Straße ist der Verkehr sowieso normal weiter geflossen. Ähnlich dürfte es im ganzen Land ausgesehen haben. Daimler, Porsche und ein paar andere Firmen kündigten zwar an, um 12.00 Uhr mittags für eine Minute die Produktionsbänder zu stoppen. Auch manche Ämter und Institutionen nahmen an der Aktion teil. Insgesamt aber blieb Stillstand die Ausnahme.

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