„Das Land der Bürokraten und Workaholics“

Wer mehr als 40 Stunden arbeitet in der Woche, sollte mit Gehaltsentzug bestraft werden. Er betreibe Raubbau, sagt der Psychologe Stephan Grünewald. „Unsere Haltung“ müsse sich ändern, der Kopf auch mal durchlüften.

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Von Hanna Gersmann

01. Nov. 2013 –

Gersmann: Herr Grünewald, die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert galt als das Zeitalter der Nervosität, die Eisenbahn setzte sich durch, Menschen bewegten sich schneller. Heute sind wir erschöpft und ausgebrannt. Ist unsere Psyche einfach nur Moden unterworfen?
Stephan Grünewald: Wenn es eine Mode gibt, dann die, dass nervöse Störungen als Burn-Out bezeichnet werden. Burn-Out besitzt ein viel höhere Sozialprestige. Das klingt wie eine moderne Tapferkeitsmedaille, weil es im Wortsinn bedeutet, dass jemand gebrannt hat. Es sind aber zum Teil die gleichen Krankheitsbilder wie früher, etwa Depression oder Nervenleiden.

Gersmann: Aber woher kommt die Zunahme der psychischen Erkrankungen. Werden diese nur häufiger diagnostiziert oder sind wir wirklich so überlastet?
Grünewald: Viele Menschen haben auf Autopilot geschaltet. Sie erhöhen ihr Lebens- und Arbeitstempo, weil sie hoffen, dass sie durch die besinnungslose Betriebsamkeit potentielle Krisen abwehren können. Das macht krank.

Gersmann: Die Krise hat Deutschland doch noch gar nicht erreicht. Der Staat kassiert mehr Steuern als erwartet. Die Arbeitslosigkeit stagniert.
Grünewald: Viele Unternehmen legen aber schon aus dieser Krisenangst heraus Arbeitsbereiche zusammen, die Vorgaben für die Mitarbeiter werden erhöht. Es gibt einen objektiven Druckzuwachs, weil immer höhere Renditen in immer kürzerer Zeit mit immer weniger Manpower erwirtschaftet werden soll.

Gersmann: Mal ehrlich. Der Samstag gehört uns. 24 Tage Urlaub im Jahr sind das Mindeste. Die Generationen zuvor haben mehr gearbeitet.
Grünewald: Die haben aber anders gearbeitet. Die hatten eine Rhythmik von Innehalten und Betriebsamkeit. Dahin sollten wir auch zurück. Das ist besser als eine Kürzung der Arbeitszeiten zu fordern. Sie pressen dann nur in 30 Stunden, was sie vorher in 35 gemacht haben. Wir brauchen wieder Zeit, um ein Schwätzchen zu halten, Gedanken schweifen zu lassen, Pausen zu machen.

Gersmann: Wer soll das bezahlen?
Grünewald: Dieses mentale Durchlüften führt doch dazu, dass wir unterm Strich viel produktiver sind. Dagegen reiben wir uns mit dem pausenlosen Stakkato immer stärker auf. Wir leiden unter eine Rhythmusstörung. Heute sind wir das Land der Bürokraten und Workaholics. Früher waren wir das Land der Dichter und Träumer und Querdenker. Wir haben diese wunderbare Begabung innere Unruhe über das Träumen in Schöpferkraft zu verwandeln, in Erfindungen, Patente, Dichtkunst. Aber das machen wir gar nicht mehr, wir haben alles dem Effizienzdiktat unterworfen.

Gersmann: Wie viele Stunden pro Woche sollten wir denn arbeiten?
Grünewald: Wer mehr als 40 Stunden arbeitet, sollte eigentlich mit Gehaltsentzug bestraft werden. Denn er betreibt Raubbau an seiner Kreativität. Aber natürlich kann man das nicht so formalistisch lösen.

Gersmann: Was muss sich ändern?
Grünewald: Unsere Haltung! Wir bringen uns in die Erschöpfung durch multiple Perfektionsansprüche. Wir sind im Dauer-Tremolo. Und längst haben wir den Werkstolz durch einen Erschöpfungsstolz abgelöst. Aber wenn wir das Gefühl haben, dass die Arbeit Werkcharakter hat, wenn es uns gelingt, anderen von unserer Arbeit zu berichten, wenn wir Pausen machen, dann ist der Stress geringer.

Gersmann: Gibt es einen Unterschied zwischen Frauen und Männern?
Grünewald: Männer tun sich einfacher damit, Fluchtburgen zu beziehen. Das kann das Büro sein, der Verein, der Fußballplatz oder der Fernseher. Frauen haben durch eine Fünffachbeanspruchung häufiger das Gefühl, permanent gefordert zu sein.

Gersmann: Fünffachbeanspruchung?
Grünewald: Eine Mutter will sich rührend um die Kinder kümmern, im Job gut voran kommen, auch die attraktive Gespielin sein, sich um ihren Freundeskreis kümmern und sich selbst verwirklichen.  Sie wird am Ende des Tages immer ein schlechtes Gewissen haben. Sie hat das Gefühl, ihre Kinder nicht genug bespielt zu haben. Sie hat schon lange keine Lust mehr auf Sex. Im Büro ist auch etwas liegen geblieben. Ihre Freunde anzurufen, dazu ist sie auch nicht gekommen. Die Selbstverwirklichung ist in weite Ferne gerückt.

Gersmann: Wo ist die Grenze zwischen Erschöpfung und Kranksein?
Grünewald: Die Grenze ist fließend. Wir geraten mitunter in eine Erschöpfungskonkurrenz. Wir motivieren unsere Kollegen nicht, eine Pause zu machen, sondern wir stacheln sie an, indem wir selber protzen, dass wir bis spätabends Mailhundertschaften bezwungen oder am Wochenende länger gearbeitet haben. Das führt zum Bur-Out.

Gersmann:Welche Warnsignale gibt es?
Grünewald: Sie haben ständig Kopfschmerzen, können nicht einschlafen, wälzen sich nachts rum und werden wach. Dass sind alles Hinweise, dass es am Tag nicht mehr gelingt, das Zuviel zu verarbeiten.

Gersmann: Thyssen Krupp hat schon einen Raum der Stille eingerichtet, in dem Mitarbeiter in einem meditativen Umfeld zur Ruhe kommen können. Stahlmanager meditieren ihren Stress weg – eine Lösung?
Grünewald: Das ist ein Ansatz. Am besten wäre es jedoch den guten alten Mittagsschlaf wieder einzuführen. 20 Minuten aufs Ohr legen.

Gersmann: Das ist in Fabriken nicht machbar.
Grünewald: Das ist freilich nicht überall möglich, es gibt aber anderes: Tischtennisplatten, Kicker. Das Ziel ist, mal eine halbe Stunde etwas komplett anderes zu machen und so die Blick- und Problemstarre aufzulösen. Dann lässt sich der zweite Teil des Tages einfacher angehen.

Gersmann: Und wenn der Arbeitgeber nicht mitmacht? Lässt sich Stressresistenz lernen?
Grünewald: Man muss raus aus dem Hamsterrad. Die Wochentage dürfen nicht alle gleich geschaltet sein, sondern jeder sollte einen andere Stellenwert hat.

Gersmann: Stellen Sie einen Wochenplan auf? Montag ist furchtbar.
Grünewald: Einerseits. Das Wochenende ist vorbei. Andererseits gibt es die geheime Erleichterung, dass wir wieder tätig werden können. Montag machen wir den Montageplan für die Woche. Für viele ist der Dienstag schrecklicher.

Gersmann: Der Dienstag?
Grünewald: Dienstag haben wir das Gefühl, wir müssen alles abarbeiten. Mittwoch geraten wir indes auf ein Zwischenplateau, wir können die Woche überblicken, was bereits geleistet ist und was noch kommt. Und wir können Pläne korrigieren. Donnerstag ist dann der Tag, an dem wir merken, was wir nicht mehr hinkriegen.

Gersmann: Da knirscht es?
Grünewald: Ja, das führt mitunter zu atmosphärischen Störungen, zum Donnerwetter. Am Freitag ist alles wieder besser, da merken wir es ist sowieso nichts mehr einzuholen. Da nehmen wir uns dann die Freiheit, Ballast abzuwerfen.

Gersmann: Das Wochenende ist ohne Probleme?
Grünewald: Nicht ganz, die Freizeit ist für viele mittlerweile noch stressiger als das Arbeitsleben. Wir können rund um die Uhr twittern, unsere tausend Freunde auf Facebook befriedigen und übers Internet zumindest gedanklich die ein oder andere Weltrevolution anzuzetteln. Dann merkt man, wir sind in einem Grad der Überspanntheit. Das führt zu Korrekturbewegung. Auf einmal abonnieren 1,2 Millionen Deutsche die Landlust, es ist das mit Abstand auflagenstärkste Magazin in Deutschland. Das ist ein Symptom. Unsere Tage sind überprogrammiert. Dagegen hilft nur eins: Wir brauchen mehr Mut zur Ruhe und zum Träumen.

Stephan Grünewald, 52, ist Psychologe, Psychotherapeut und Leiter des Rheingold-Instituts für Kultur-, Markt- und Medienforschung in Köln. 2006 wurden er mit dem Buch „Deutschland auf der Couch“ bekannt, gelten als Experte für die Psyche der Deutschen. Sein aktuelles Buch heißt: „Die erschöpfte Gesellschaft“. Deutschland müsse einen Gang zurückschalten, mehr träumen, sagt er.

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