Das Monopol auf gute Taten

Die Arbeit der Tafeln in Deutschland ist unverzichtbar und trotzdem umstritten. Armutsforscher sehen die Gefahr, dass sich der Staat aus seiner Wohlfahrtsverantwortung zurückzieht.

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Von Wolfgang Mulke

11. Mär. 2018 –

Der Andrang bei den Tafeln ist wie in Essen auch in anderen Städten so groß, dass es an den Eingängen zu Drängeleien kommt. Doch die Berliner Einrichtungen machen vor, dass es auch ohne die Aussperrung bestimmter Gruppen zu geordneten Verhältnissen kommen kann. „Viele Ausgabestellen haben ein Losverfahren für die Wartenden eingerichtet“, erläutert Tafel-Chefin Sabine Werth, „einige haben sogar ein ausgeklügeltes System, das mit wechselnden Farbzuordnungen feste Zeitfenster für die Abholung regelt.“ Auf diese Weise werden alle Bedürftigen gleich behandelt. Die bundesweit 2.000 Ausgabestellen sehen sich zu Unrecht in der Kritik, nachdem die Essener Tafel mit der Aussperrung von Migranten auf Gewalttätigkeiten im Kampf um die Lebensmittel reagierte. Dem Vorsitzenden des Bundesverbands Tafel Deutschland, Jochen Brühl, platzte nun der Kragen. „Der eigentliche Skandal ist, dass es in diesem reichen Land Menschen gibt, denen es am nötigsten mangelt“, stellt er fest und knöpft sich dann die Bundeskanzlerin vor. Angela Merkel hatte die Essener Entscheidung zuvor gerügt. „Die aktuelle Entwicklung ist eine Konsequenz ihrer Politik“, sagt Brühl. Der Armutsforscher Stefan Selke von der Uni Furtwangen hält die Aufregung um die Geschehnisse in Essen für überzogen. „Man tut so, als würden sich nur die sozial Schwachen auffallend verhalten“, kritisiert der Forscher, „oben wird genauso gerempelt.“ Tatsächlich haben die Tafeln landauf, landab jede Menge zu tun. 1,5 Millionen Bedürftige finden sich mit der Hoffnung auf kostenlose Lebensmittel in den Niederlassungen ein. An Rentner, Landzeitarbeitslose, Alleinerziehende oder auch Flüchtlinge werden die Lebensmittelspenden verteilt. Hier wird auch Altersarmut sichtbar. Fast jeder vierte Besucher ist Rentner. Die Hilfesuchenden müssen ihre Bedürftigkeit nachweisen. Sie erhalten Nahrungsmittel, die irgendwo anders im Überfluss vorhanden waren, zum Beispiel in Supermärkten oder Restaurants. Allein von der Internationalen Grünen Woche schleppten die ehrenamtlichen Helfer zwölf Tonnen Lebensmittel in die Lager der Tafel. Aus der vor fast genau vor 25 Jahren in Berlin als Obdachlosenhilfe ins Leben gerufenen Tafel ist in der Zwischenzeit eine Art Benefiz-Konzern erwachsen. 60.000 freiwillige Helfer erledigen die Arbeit. Im Angebot sind mitunter auch Kleiderkammern, Beratungen oder Kurse für Kinder. Finanziert wird die Hilfe durch Geld- und Sachspenden. Der Jahresbericht des Bundesverbands weist hier für 2016 Einnahmen von 5,4 Millionen Euro aus. Unter den Spendern finden sich viele vertraute Namen, von Lidl über Tchibo bis hin zu Daimler. Die Entwicklung zur Großorganisation ruft seit langem auch Kritiker auf den Plan. Armutsexperte Selke gehört zu den schärfsten. "Die Tafeln sind ein moralisches Unternehmen geworden“ sagt er. Ihr Produkt habe sich verändert, von der Hilfe für Obdachlose hin zu einem wachstumsorientierten Konzern, der Marketing betreibt und Zielgruppen differenziert. „Moralische Reputation ist das Unternehmensziel und sehr viele Leute haben etwas davon", stellt er fest. Die Kernfrage der Skeptiker ist, inwieweit sich die Politik mit Hilfe der Tafeln aus der Verantwortung für eine Grundversorgung Bedürftiger stiehlt und bei der Armutsbekämpfung versagt. Ein Blick auf den Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger lässt diese Vermutung zu. 416 Euro sieht das Gesetz monatlich für allgemeine Ausgaben vor, davon entfallen 145,04 Euro auf die Ernährung. Das macht 4,83 Euro pro Tag. Da wundert der Andrang bei den Tafeln wenig. Laut Bundesverband leben 15 Millionen Bürger in Armut oder an der Schwelle dazu. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass sich Unternehmen mit Spenden an die Tafel in gewissen Weise von der Verantwortung für die Entstehung von Armut freikaufen. Das sehen die bundesweit 937 Tafeln anders. Sie fordern eine konsequente Politik der Vermeidung von Armut. Brühl beklagt zu geringe Renten und Niedriglöhne sowie eine unzureichende Grundsicherung im Alter. Dies sei das tatsächliche Problem. Allerdings spricht manches dafür, dass sich auch die Tafeln selbst ein Eigeninteresse am Überleben aufgebaut haben. Die meisten davon gibt es ausgerechnet in Bayern und Baden-Württemberg, den Regionen mit den geringsten Armutsproblemen. "Die Tafeln werden dort gegründet, wo es einen Resonanzraum für gute Moral gibt“, erläutert Selke, „wo die Menschen Zeit und Kompetenzen haben." Der Armutsforscher fordert eine Rückkehr der Tafeln zu ihren Ursprüngen, der Hilfe in einzelnen Projekten. Sie müssten sich klar vom Staat und den Unternehmen trennen, die an der Armut eine Mitverantwortung tragen.

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