Das Spiel des Lebens
Vollbeschäftigung - auch für meine Kinder?
23. Jun. 2014 –
Über der Bühne hängt die Orgel, seit Jahren kaputt. Das grelle Licht dieses Augustmorgens fällt durch die hohen, bemalten Fenster. Es ist warm, fast muffig in der Aula des Röntgen-Gymnasiums in Remscheid-Lennep. 160 Schüler und Schülerinnen der zwölften Klasse hoffen auf die große Pause. Vorne hinter dem Stehpult auf der Bühne schwitzt unser Direktor. Immer wieder holt er sein Stofftaschentuch hervor und tupft seine Stirn ab. Die Rede scheint auch ihn anzustrengen. Er will uns damit auf unser Berufsleben vorbereiten.
Mit meinen 18 Jahren habe ich eigentlich schon ganz klare Vorstellungen von meinem künftigen Job. Denn ich erlebe gerade den ersten richtigen Politisierungsschub. Im Dritte-Welt-Laden an der Kleinstadtkirche neben Wilhelm Conrad Röntgens Geburtshaus verkaufen wir an zwei Nachmittagen in der Woche Kaffee aus Nicaragua. Ich erfahre, dass Jutetaschen besser sind als Plastiktüten und Atomkraftwerke gefährlich. Um davon möglichst vielen zu erzählen und die Welt besser zu machen, will ich Lehrer werden. Die Schule macht Spaß, alles klappt prima, außer mit den Mädchen. Lehrer scheint ein guter Job für mich zu sein.
An diesem Vormittag des Jahres 1980 rät unser Direktor in seinem beige karierten Jackett allerdings: „Versucht bitte nicht, Lehrer zu werden. Es gibt viel zu viele Studenten, die das auch wollen. Die sind später alle arbeitslos.“ Dieses Zitat habe ich damals nicht mitgeschrieben. Es ist mir in Erinnerung geblieben. Auch vor vielen anderen Berufen warnt unser Direktor. Ich weiß nicht mehr genau, vor welchen. Aber ich bekomme in diesem Moment in der Aula meines Gymnasiums den Eindruck, dass das alles ganz schön schwierig werden kann.
Die Aussichten sind damals überhaupt eher trübe. Es droht doch einiges, wovon man immer wieder hört: die große Depression, Umweltkatastrophen, ein Weltkrieg. Und dann auch immer: die so genannte Massenarbeitslosigkeit. In der Tagesschau im Ersten Programm zeigen sie graue Menschenschlangen vor Arbeitsämtern. Das Stahlwerk, dessen Hammerdröhnen wir nachts manchmal hören, hat Arbeiter entlassen, steht in der Zeitung. Angeblich auch den Mann der italienischen Familie, die gegenüber von unserem Haus wohnt, sagen meine Eltern. Die sozialliberale Bundesregierung unter Helmut Schmidt stürzt dann auch, weil sie es nicht schafft, die Arbeitslosigkeit zu senken. Dietrich Genscher wechselt mit seiner FDP die Seiten und verhilft im Sommer 1982 Helmut Kohl zur Kanzlerschaft. Unerfreuliche Zeiten in vielerlei Hinsicht.
1975 suchen offiziell 1,1 Millionen Leute in Deutschland eine Arbeit. 1985 ist die Zahl schon auf 2,3 Millionen Erwerbslose gestiegen - Nachkriegsrekord der Bundesrepublik. Da liegt die Quote bei neun Prozent. Der Wohlfahrtsstaat scheint am Ende zu sein, das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft, der Wohlstand für alle, scheint ausgedient zu haben. Ist die Leiter des sozialen Aufstiegs abgesägt? Es entsteht die Redensart von der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“. Wenn Linke diesen Begriff verwenden, bedeutete das: Ein Drittel der Bevölkerung wird von nun an dazu verdammt sein, arm zu bleiben.
Heute, gut 30 Jahre später, hat mein 14 Jahre alter Sohn gerade seinen ersten Job klargemacht – einen Platz für das dreiwöchige Praktikum, das die Schüler von Oberschulen in der neunten Klasse absolvieren müssen. Die kleine Firma, die Elektro-Fahrräder entwickelt und produziert, hat ihre Werkstatt im rötlichen Backsteingebäude eines alten Berliner Industriegebiets. Drinnen ist alles in hellen Farben gestrichen, auf den Werkbänken entlang der Wände liegen saubere rote und blaue Werkzeuge, edel designte Faltblätter werben für 2.000-Euro-Räder. Diese Firma sieht nicht aus wie eine Schlosserei, eher wie eine Zahnarztpraxis.
„Hier, probier das mal aus“, fordert der jugendliche Chef, der alle duzt, meinen Sohn auf. Er präsentiert ein fettes Mountainbike, das fast einem Motorrad ähnelt. Eigentlich bräuchte es ein Versicherungsnummerschild, sagt der Chef – dank einer Gesetzeslücke könne man das Ding aber trotzdem in der Stadt fahren.
Mein Sohn steigt auf, tritt leicht in die Pedale und zieht davon. Die Elektromotor beschleunigt das Rad zügig auf 40 Stundenkilometer. „Voll cool“, sagt er, als er zurückkommt. Das Praktikum ist gesichert. Und die Firma hat eine Arbeitskraft mehr. Schließlich boomt die E-Bike-Branche. Die fünf Beschäftigen haben mehr als genug zu tun: Motoren anpassen, einbauen, die Räder montieren, ausliefern. „Hier gibt es jede Menge zu schrauben“, verspricht der Chef.
Eine Woche später schon liegen die Praktikumsunterlagen zu Hause im Briefkasten. Für meinen Sohn ist es eine Einladung ins Berufsleben, eine Ahnung von Erfolg, von dem Gefühl, dass er gebraucht werden könnte – ganz anders als der Beginn meines eigenen Weges, der mit der Warnung meines Direktors begann. Es scheint heute ein anderes Lebensgefühl zu sein – entspannter und zuversichtlicher.
Wenn alles gut läuft, steuert die Gesellschaft, in der meine Kinder ihre ersten Jobs finden auf die Vollbeschäftigung zu. Wie wächst eine Generation mit solchen Aussichten auf?
„Hast Du den Eindruck, dass du dir später einmal den Beruf aussuchen kannst, den Du möchtest?“, frage ich meinen Sohn. Seit der Bewerbung für das Praktikum unterhalten wir uns öfter über solche Themen. „Das hängt auch vom Glück ab“, antwortet er. „Ich will später nichts arbeiten, dass mir keinen Spaß macht. Irgendetwas findet sich schon, das Spaß macht.“
Meine Tochter ist schon ein bisschen weiter. Sie ist siebzehn, hat das Praktikum hinter sich, außerdem mehrere Infoveranstaltungen zur Berufsorientierung an ihrer Schule. In zwei Jahren wird sie wohl Abitur machen. Auch sie ist erst mal optimistisch: „Wenn man Bock darauf hat, wenn man gut darin ist, kann man den Beruf machen, den man machen möchte.“
Im Frühjahr 2014 sind drei Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos. Klingt viel im Vergleich zu den 1980er Jahren. Im Verhältnis zur gestiegenen Zahl der Bevölkerung und der Arbeitskräfte liegt die Quote aber nur noch bei 6,6 Prozent. Tendenz: sinkend, nicht steigend wie vor 30 Jahren. Und so wird es weitergehen, sagen viele Ökonomen. Das hat mit der teilweise erfolgreichen Wirtschaftspolitik des vergangenen Jahrzehnts und der vergleichsweise guten Konjunktur zu tun, aber nicht nur.
Ich bin 1961 geboren. In ganz Deutschland kamen in jenem Jahr rund 1,3 Millionen Kinder zur Welt. In den Jahrgängen meiner Kinder, 1997 und 1999, waren es jeweils nur noch rund 800.000. Das Minus wird noch deutlicher, wenn man es ins Verhältnis setzt zur gestiegenen Bevölkerungszahl des wiedervereinten Deutschland. „Demografischer Wandel“ heißt dieses Phänomen in der Sprache der Politik. Der Anteil der Jungen an der Bevölkerung nimmt ab, der der Älteren dagegen steigt.
Was die Berufsaussichten meiner Kinder betrifft, stelle ich mir die Auswirkungen so vor: Wenn meine Jahrgangsgefährten und ich in etwa 15 Jahren allmählich in Rente gehen, werden meine Kinder gerade ihre ersten bezahlten Stellen antreten. Sie sind aber 500.000 weniger als wir. So hinterlassen wir jede Menge freie Arbeitsplätze. Die Unternehmen, Verwaltungen und Institutionen müssen sich dann um die viel zu wenigen Bewerber streiten. Goldene Zeiten für meine Kinder. Sie können sich ihre Jobs aussuchen, sie werden eine Menge Geld verdienen. Das ist doch Fortschritt.
Es gibt Hinweise, dass ich gar nicht so falsch liege. Die Organisation for Economic Cooperation and Development OECD, in der 34 westliche Industrieländer zusammengeschlossen sind, sieht schon „Vollbeschäftigung“ in Deutschland kommen. „Gute bis sehr gute Aussichten auf dem künftigen Arbeitsmarkt“, bescheinigt Robert Helmrich vom Bundesinstitut für Berufsausbildung in Bonn den jungen Leuten, die heute zur Schule gehen. Schon jetzt finden Altenheime kaum Pfleger und Krankenhäuser kaum Schwestern. Überall ist von „Fachkräftemangel“ die Rede. So hat die Bundesregierung vor einiger Zeit eine Internetseite eingerichtet mit der Adresse www.mangelberufe.de. Das sagt doch alles.
Oder nicht? Wenn ich meinen Kindern helfen soll, sich auf diese Zukunft vorzubreiten, muss ich es genauer wissen. Ich frage Sabine Klinger. Sie ist Wirtschaftswissenschaftlerin am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur in Nürnberg. Eine ihrer Aufgaben besteht darin, die zukünftige Entwicklung zu prognostizieren. „Ich stolpere über den Begriff Vollbeschäftigung“, sagt die Forscherin.
Einerseits, erklärt Klinger, werde das, was sie Erwerbspersonenpotenzial nennt, wohl von 44,3 Millionen Menschen 2010 auf rund 38 Millionen im Jahr 2025 sinken. Diese Zahl umfasst alle Erwerbstätigen, Erwerbslosen und die Personen der sogenannten stillen Reserve, die grundsätzlich arbeiten würden, es aber aus diversen Gründen nicht tun. Darunter sind auch Millionen Ausrangierte, die nach jahrelanger Arbeitslosigkeit kaum noch Chancen auf bezahlte Stellen haben, weil sie etwa nicht mehr ausreichend qualifiziert sind. Entscheidend, so Klinger: Unter dem Strich fehlten in gut zehn Jahren im Vergleich zu heute insgesamt 6,3 Millionen potenzielle Arbeitskräfte.
Andererseits sagt die Forscherin: „Wenn die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte zurückgeht, verschwindet nicht unbedingt die Arbeitslosigkeit.“ Ihre Botschaft ist weniger optimistisch, als ich gehofft hatte. Für das Jahr 2025 rechnet ihr Institut mit etwa 1,5 Millionen Erwerbslosen. Das ist die Hälfte der heutigen Zahl. Die Arbeitslosenquote läge dann immer noch zwischen drei und vier Prozent. Unter „Vollbeschäftigung“ versteht man dagegen eine noch niedrigere Erwerbslosigkeit von zwei bis drei Prozent. „Es ist schwer vorstellbar, dass die Arbeitslosenquote so weit abnimmt“, sagt Klinger, „immerhin gibt es sehr große regionale Unterschiede und ohne eine tragfähige Qualifikation wird die Arbeitssuche auch in Zukunft schwierig sein“.
Weitere Gründe: Unternehmen stellen sich auf den Mangel an Arbeitskräften ein und rationalisieren freie Stellen weg. Roboter werkeln in Fabrikhallen, Computer in Büros. In den kommenden 20 Jahren könnte in den USA jeder zweiter Job wegen der Automatisierung gefährdet sein, haben zwei Wissenschaftler aus Oxford errechnet. Außerdem werden mehr Frauen arbeiten als heute. Auch könnten mehr Zuwanderer nach Deutschland kommen. Und meine Generationsgefährten und ich müssen oder möchten vielleicht länger arbeiten als es heute üblich ist. Warum soll ich mit 67 Jahren aufhören, Artikel zu schreiben? Die Rente wird eh nicht üppig ausfallen.
Was heißt das also für meine Kinder? Ihre Berufsaussichten sind tatsächlich viel besser, als meine es waren, auch wenn nicht jede Ausbildung zu Traumjob, Glück und Geld führt. Was soll ich ihnen bei dieser Ausgangslage raten?
Vor einiger Zeit kam meine Tochter mit einem erstaunlich klaren Plan aus der Schule. Dort hatte ein zweitägiges Seminar stattgefunden mit Beratern der Arbeitsagentur: Was sind Eure Stärken, an welchen Tätigkeiten habt Ihr Spaß, welche Berufe könnten damit zusammenhängen? „Ich könnte Produktdesign studieren“, erklärte sie und klang entschlossen.
Dass sie quasi aus dem Stand eine so konkrete Berufsidee entwickelte, die ihr Interesse an Zeichnen, Malen, Formen und Gestaltung aufnimmt, freute mich. Aber ich erzählte ihr auch von meinen Zweifeln: Den wenigsten Designern gelingen bleibende Entwürfe. Die meisten grübeln über Polstermustern für Autositze, Kunststoffverkleidungen für Waschmaschinen oder machen Werbung für irgendwelche Unternehmen. Will man das sein – ein Texter doofer PR-Botschaften, ein kreativer Gehilfe für die Gewinne der Konzernvorstände?
Das weiß meine Tochter auch nicht. Auf ihre Art ist sie ähnlich kritisch, wie ich es damals im Dritte-Welt-Laden war. Außerdem steht sie ganz am Anfang der großen Berufslotterie. Mittlerweile klingt sie etwas weniger sicher, wenn sie über ihre Zukunft redet: „Einen genauen Beruf weiß ich noch nicht. Aber es könnte etwas mit Design zu tun haben.“ Und dann seufzt sie manchmal und sagt: „Alles ganz schön schwierig.“
Eine Information, die sie aus der Berufsberatung in der Schule mitbrachte, war diese: In Deutschland gibt es derzeit rund 9.000 Studiengänge, mit denen man den Bachelor-Abschluss an der Uni erwerben kann. Dazu kommen etwa 350 Berufsausbildungen, plus in Berlin mehrere hundert schulische Ausbildungen an den Oberstufenzentren oder beruflichen Fachschulen. Wer soll sich da zurechtfinden?
Meine Kinder sind nicht nur optimistisch – sie spüren auch eine große Offenheit, eine vielleicht etwas zu große. Alles ist möglich. Alles? Tausend Möglichkeiten, die es schwieriger machen, genau eine davon auszuwählen. Die Idee, zu studieren, könnte auch deshalb attraktiv erscheinen, weil dann noch ein paar Jahre mehr Zeit ist, bis man sich wirklich entscheiden muss, womit man sein Geld verdient.
Mein Sohn steht sowieso noch am Anfang seiner professionellen Orientierung. Er sagt: „Ich würde gerne irgendetwas entwickeln - Produkte, die man benutzen kann, die das Leben vereinfachen. Es gibt an Computern so viel zu verbessern.“ Oft unterhalten wir uns über Phänome wie die Google-Brille und intelligente Kühlschränke, die sich merken, welche Lebensmittel ihre Besitzer kaufen, und sie selbstständig nachbestellen. Wir entwerfen lustige Science-Fiction-Welten, es ist ein spielerisches Ausprobieren von Gedanken und Möglichkeiten. Dabei belasse ich es einstweilen. Mein Sohn ist 14 Jahre alt. Viel Zeit. Er wird schon auf eine Idee kommen.
Berufsberatung durch Eltern, Lehrer und andere Autoritäten hat sowieso begrenzte Wirkung. Das ist zumindest meine Erfahrung. Mit 19 Jahren schlug ich die Warnung meines Schuldirektors in den Wind und begann, Lehramt für Gymnasien zu studieren. Früher hatte ich auch mal Flugzeugingenieur werden und bei der Bundeswehr in Hamburg studieren wollen. Damit wäre ich in die Fußstapfen meines Vaters getreten, der von 1933 bis 1945 Soldat der Wehrmacht war. Glücklicherweise traf ich gerade noch rechtzeitig die richtigen Freunde – Kriegsdienstverweigerer, Langhaarige, Neil-Young-Fans. Wir gingen demonstrieren, ich trat den Grünen bei. Später verschob sich das Berufsziel Weltverbesserung leicht. Ich legte zwar noch das Lehramtsexamen in Germanistik und Geschichte ab, wurde dann aber Journalist.
Dass ich als Erster meiner Familie studieren würde, war immer klar. Dutzende Millionen armer Leute hatten während des Wirtschaftswunders ein Ziel: Aufstieg in die Mittelschicht durch harte Arbeit und Bildung. Meine Mutter hatte eine Ausbildung zur medizinischen Laborassistentin gemacht, mein Vater Abitur. Nach dem Krieg fing er beim Finanzamt an. Dass ich einen möglichst hohen Abschluss anstreben sollte, war für sie keine Frage.
Das war das Programm, das ich weiterverfolgte, als ich selbst längst Vater war. Einmal saßen wir mit Freunden auf der Terrasse, unsere Kinder waren gerade fünf und sieben. Eine Freundin sagte: „Ich will ihnen keinen Druck machen. Abitur muss ja nicht unbedingt sein.“ Die mittlere Reife reiche auch aus, überlegte sie, dann eine Lehre, die Lebenszufriedenheit gehe vor, ihre Kinder sollten nicht dem ständigen Leistungsstress der Erwachsenen ausgesetzt sein.
„Nein“, hielt ich dagegen, „mit Abitur und Studium ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass die Kinder ein cooles Leben haben.“ Meine Frau schaute mich leicht irritiert von der Seite an. Ich ließ mich nicht davon abbringen: Je besser die Ausbildung, je höher der Abschluss, desto angenehmer das Leben.
So erzählte ich das auch meinen Kindern immer wieder. „Dann habt Ihr mehr Wahlmöglichkeiten, Ihr könnt mehr gestalten, Ihr verdient mehr Geld.“ Diese Ansage finde ich noch immer richtig. Mittlerweile gestehe ich mir ein, dass sie auch von meiner 1970er-Jahre-Angst vor der hohen Arbeitslosigkeit gespeist wird. Denn damals paarte sich das Ideal vom Aufstieg durch Bildung mit dem Versuch, drohenden Abstieg mittels Bildung zu verhindern. So oder so: Meine Kinder richteten sich danach. Auch für sie ist klar, dass sie zur Uni gehen.
Während der vergangenen Jahren dachte ich immer, diese Einstellung sei gedeckt von ganz oben. Politiker und Bildungsexperten bemängelten doch dauernd, dass hierzulande zu wenige Abiturienten zur Uni gingen. Das Studium wird vernachlässigt! Deutschland braucht mehr Hochqualifizierte! Oder habe ich mich verhört? Denn neuerdings lese ich das Gegenteil: Es gebe zu viele Studenten, zu wenige Lehrlinge. Eric Schweitzer, der Präsident der Handelskammern, sagt etwa: „Der Trend zur Akademisierung um jeden Preis muss gestoppt werden. Viele Eltern denken leider: Mein Kind ist nur dann ein gutes Kind, wenn es studiert.“
Ich auch? Natürlich nicht. Und doch beunruhigen mich solche Aussagen. Habe ich meine Kinder schlecht beraten? Ich muss noch einmal bei Sabine Klinger vom Berufsforschungsinstitut in Nürnberg nachfragen.
Tatsächlich zählt sie einige aussichtsreiche akademische Berufe auf, mit denen man später gutes Geld verdienen kann. So haben Elektro- und Maschinenbau-Ingenieure, Softwareentwickler, Unternehmensberater aller Art, Anwälte, Steuer- und Verwaltungsexperten, sowie Ärzte später sehr gute Perspektiven. Ich bin erleichtert.
Klinger sagt allerdings auch: „Arbeitskräftemangel wird es vor allem im mittleren Segment geben.“ Teilweise heute und in einigen Jahren noch mehr gesucht würden Altenpfleger, Krankenschwestern, technische Facharbeiter, die Maschinen einrichten und warten, Meister für Sanitärtechnik, Dachdecker, die Solaranlagen montieren, sowie viele andere handwerkliche und gewerbliche Qualifikationen. Vielleicht ist Design für meine Tochter also gar nicht so schlecht, das ist ja fast Handwerk.
Deutschland, die Exportwirtschaft, die zusehen muss, dass sie besonders gute Produkte anbietet. So ist das doch auch. Braucht man dafür nicht geniale Ingenieuren und Wissenschaftlern, immer eine Spur innovativer als die Konkurrenz? Das neue Lob der Lehre und des Handwerks kommt mir da eher seltsam vor. Findet das nur ein Industriechef oder sagen das auch Menschen, die Jugendliche wie meine Tochter beraten?
An einem Nachmittag im Frühjahr treffe ich Wiegand Schulze. Er arbeitet als Lehrer an der Sophie-Scholl-Sekundarschule im Berliner Bezirk Schöneberg, an der Schule meiner Tochter. Schulze berät die Schüler bei der Berufsorientierung. Er trägt schwarze Jeans, kariertes Jackett, graubraunen Schal und weißes Pony.
19 Rechner hat er im Computerraum der Schule in Betrieb gesetzt, damit Schüler der zehnten Klassen sich mit Alternativen zu Abitur und Studium auseinandersetzen können. Schulze besorgt dies: Einerseits bekommt er ständig Anfragen von Betrieben, die Lehrlinge suchen. Gerade heute wieder – er holt den Brief aus seiner Tasche. Eine Berliner Fensterbaufirma braucht dringend Metallbauer und Tischler. Der Chef stellt die Festanstellung nach der Ausbildung in Aussicht.
„Doch von den fast 200 Schülern des 10. Jahrgangs unserer Schule interessieren sich nur zwei für eine Berufsausbildung“. Schulze wird jetzt fast empört: „Zwei von 200, das ist ein Prozent“. Der Lehrer sieht einen „falschen Drang zum höheren Abschluss.“ Falsch deshalb, weil sich viele Schüler mit dieser Entscheidung leistungsmäßig überfordern und scheitern. „Sie wären in einer Berufsausbildung besser aufgehoben“, sagt Schulze, „Abitur und Studium sind überbewertet. Gute Berufsausbildungen bringen auch gute Jobs.“ Deutschland sei eben nicht nur eine Exportwirtschaft für Maschinen, Fahrzeuge und Kraftwerke, die besonders viele Entwickler, Designer und Organisationsgenies brauche. „Unsere einheimische Wirtschaft halten Friseurinnen, Kellner, Verkäufer, Schlosser, Zahnarzthelferinnen und Müllmänner am Laufen.“
Nur mal hypothetisch - wie wäre es also, wenn meine Kinder Handwerker würden? Bei diesem Gedanken fällt mir erstmals auf, dass ich den Aufstiegsehrgeiz meiner Eltern doch nicht mehr so weitergebe, wie ich ihn inhaliert habe. Denn ich denke ja nicht, dass meine Kinder unbedingt eine höhere Bildung und eine bessere Arbeit brauchen, als ich sie habe. Wenn Sie das Niveau halten, bin ich schon zufrieden. Interessante Veränderung. Lässt nun der Druck der 1970er nach? Weil ich meine soziale Position und die meiner Kinder weniger bedroht sehe, als meine Eltern es taten?
Außerdem hätte ich nicht unbedingt etwas dagegen einzuwenden, wenn sie sich mit dem Abitur begnügten und dann eine Ausbildung absolvierten. Um Status geht es mir nicht. Wichtig finde ich es aber, dass meine Kinder sich bemühen, ihre Fähigkeiten auszunutzen und nicht unter ihren Möglichkeiten zu bleiben. Wie käme ihnen das selbst vor – eine Berufsausbildung zu machen?
Offensichtlich habe ich mit meiner Indoktrination ganze Arbeit geleistet. Beide haben die intuitive Vorstellung, dass ihr Lernprozess erst abgeschlossen sei, wenn sie einen Uni-Abschluss besitzen. „Vorher ist man nicht komplett fertig, man weiß noch nicht alles über sein Fach“, meint mein Sohn.
Andererseits haben beide Angst davor, später nur Theorie zu treiben. Sie wollen auch mit ihren Händen arbeiten. Meine Tochter ist ständig dabei, irgendetwas zu zeichnen, sägen, kleben, biegen, nähen, aufzuhängen, abzuhängen, umzugestalten. Ihr Bruder sinniert über technische Verbesserungen von Produkten, „möchte aber nicht den ganzen Tag vor dem Computer sitzen“. Praktische Arbeit, vielleicht auch Handwerk, betrachten sie als möglichen Teil einer guten Tätigkeit.
Ich konnte mir nie etwas anderes vorstellen als einen akademischen Schreibtischberuf. Für meine Kinder ist es anders: Ihnen erscheint das Studium wohl als eine Station auf dem Weg zu einem Ziel, das sie irgendwann erst noch genauer definieren müssen. Ich neige dazu, das als Zugewinn an Selbstbestimmung zu betrachten.
Was wird das für eine Gesellschaft sein, in der meine Kinder arbeiten werden? Und noch eine Generation weiter gedacht: Welches Lebensgefühl geben meine Kinder vielleicht ihren Kindern mit? Der demografische Wandel und ein Arbeitsmarkt nahe an der Vollbeschäftigung könnten zu einer sozialeren Marktwirtschaft führen – weniger Konkurrenz zwischen Beschäftigten, mehr Sicherheit. Schließlich müssen die Unternehmen mehr Rücksicht auf ihr Mitarbeiter nehmen, weil diese knapp, begehrt und teuer sind.
„Träum weiter“, denke ich dann sofort. Die nächste Wirtschaftskrise kommt bestimmt. Die Globalisierung geht auch weiter. Oder der Wert des Euro steigt so stark, dass deutsche Unternehmen weniger Waren auf dem Weltmarkt verkaufen. Dann haben wir auch gleich wieder höhere Arbeitslosigkeit.
Aber ich komme auch aus einer anderen Zeit.
Shorty
Was ist Vollbeschäftigung?
Ein Zustand, der in Marktwirtschaften im alltäglichen Sinne des Wortes fast nie erreicht wird. Sei die Wirtschaftslage noch so gut, so klaffen das Angebot von Stellen und die Nachfrage nach Arbeitsplätzen doch auseinander. Manche Leute wohnen beispielsweise in Ecken des Landes, wo es zu wenige Jobs gibt, wollen aber nicht in die Boomregionen umziehen. Dort können Unternehmen offene Stellen teilweise nicht besetzen, weil die geeigneten Bewerber fehlen. Auch in guten Zeiten gehen Industriebetriebe pleite, und plötzlich stehen tausende Beschäftigte auf der Straße. Deswegen hat es sich eingebürgert, beschönigend von Vollbeschäftigung zu reden, wenn nur noch etwa zwei Prozent der Erwerbspersonen arbeitslos sind. In Deutschland wäre das etwa eine Million Menschen. Heute suchen offiziell noch knapp drei Millionen Arbeitslose eine Stelle.