„Demokratie nach Europa verlagern“
„Wer mit China verhandeln will, muss das föderale Europa stärken“, sagt Guy Verhofstadt, Chef der Liberalen im Europa-Parlament
30. Nov. 2012 –
Hannes Koch: Durch die Krise wird Europa mächtiger. Allerdings eher die Exekutive, nicht das EU-Parlament. Ist es sinnvoll, wenn stattdessen die nationalen Parlamente der Einzelstaaten die demokratische Kontrolle ausüben?
Guy Verhofstadt: Nein. Wir müssen die Demokratie auf europäischer Ebene weiterentwickeln. Das könnte so aussehen: Die europäische Regierung, die heutige Kommission, kooperiert mit zwei Kammern, die die Gesetze machen. Das EU-Parlament als eine Kammer würde die europäischen Bürger repräsentieren, der Senat, heute der Rat der Regierungen, die Nationalstaaten. In Deutschland haben Sie ein ähnliches System mit dem Bundestag und dem Bundesrat, der die Länder vertritt.
Koch: Viele Menschen in Deutschland, den Niederlanden und anderen Staaten sind skeptisch gegenüber einer solchen Aufteilung. Warum sollen nicht der Bundestag und die anderen nationalen Parlamente die europäische Regierung kontrollieren?
Verhofstadt: Weil das nicht funktionieren kann. Stellen Sie sich vor, die Parlamente und Regierungen der 50 Mitgliedstaaten der USA würden jedes Mal mitentscheiden, wenn die Regierung in Washington einen Beschluss fassen will. Das dauerte alles viel zu lange, die Regierung wäre weitgehend handlungsunfähig. Die Mitwirkung der Bürger und ihrer Vertreter muss auf der Ebene stattfinden, auf der auch die Entscheidungen fallen. Nationale Parlamente haben die Aufgabe, Nationalregierung zu kontrollieren. Das Europa-Parlament aber ist zuständig für gesamteuropäische Belange.
Koch: Das bedeutet, die Nationen zurückzulassen, wenn man in Richtung Europa gehen will?
Verhofstadt: Die Nationalstaaten verschwinden nicht. Sie werden nur Teil eines föderativen Systems. Und das betrachte ich als echten Fortschritt. So können wir die Unterschiedlichkeit der Kulturen, Sprachen und Regionen in Europa erhalten, und trotzdem dort effektiv zusammenarbeiten, wo es nötig ist.
Koch: Wenn die Volksvertretung in Brüssel über zunehmend größere Geldsummen bestimmt, schränkt dies das Haushaltsrecht der nationalen Parlamente ein. Was das europäische Parlament stärkt, schwächt den Bundestag.
Verhofstadt: In Brüssel sollten wir über die Dinge entscheiden, die für alle wichtig sind. Beispielsweise braucht unsere gemeinsame Währung eine gemeinsame Politik. Auch den Rahmen für die nationale Haushaltspolitik oder die Rentensysteme sollten wir auf europäischer Ebene vereinbaren. Wie die Altersvorsorge dann jedoch konkret ausgestaltet wird, können die Einzelstaaten entscheiden.
Koch: Wird es Steuern geben, die Europa zugute kommen?
Verhofstadt: Ja, aber das bedeutet nicht, dass die Bürger mehr bezahlen. Beispielsweise könnte man den einen Teil der Mehrwertsteuer national verwalten, den anderen europäisch.
Koch: Damit würde der Bundestag künftig über geringere Summen bestimmen als heute – eine Verlagerung von Haushaltsmacht auf die europäische Ebene.
Verhofstadt: Das ist wahr. Wir sollten freilich eingestehen, dass die Krise uns heute auch deshalb so hart trifft, weil die Nationalstaaten bisher zu wenige Kompetenzen nach Europa verlagert haben. Seien wir ehrlich. Werden die Griechen oder die Spanier durch ihre eigenen Regierungen wirksam beschützt? Was bedeutet in der globalisierten Welt von morgen noch nationale Souveränität? Wer die Souveränität der Bürger bewahren, wer mit Mächten wie China und Indien auf Augenhöhe verhandeln will, der muss das föderale Europa stärken.
Koch: Dem Europäischen Parlament fehlen heute entscheidende Kompetenzen. Welche sollte es hinzugewinnen?
Verhofstadt: Zunächst einmal kann es ein paar Befugnisse abgeben. Die Detailregelungen für die Beschaffenheit einzelner Produkte auf dem gemeinsamen Markt können wir den Nationalstaaten überlassen. Hinzugewinnen muss das EP hingegen Kompetenzen, um den Rahmen zu bestimmen, der die Union zusammenhält. Ich denke an das Rentensystem: Wie hoch soll die Alterssicherung mindestens sein, in welchem Lebensalter bekommt man sie? Solche Fragen sind wichtig für die ökonomische und gesellschaftliche Position Europas in der Welt. Mit welchen Mitteln die gemeinsamen Ziele umgesetzt werden – private oder öffentliche Rentenversicherung – können die Mitgliedstaaten selbst definieren.
Koch: Ohne Beteiligung des Parlamentes haben die Regierungen den Rettungsfonds ESM mit 750 Milliarden Euro Kapital gegründet. Wollen die Parlamentarier auch diesen künftig kontrollieren?
Verhofstadt: Natürlich! Es war ein gigantischer Fehler, das Parlament dabei nicht von Anfang an einbezogen zu haben. Jetzt garantieren die Nationalstaaten den Fonds – mit der Konsequenz, dass er möglicherweise über zu wenig Geld verfügt, um eine große Ökonomie wie Italien abzusichern. Wie aber kann der Fonds mehr Kapital erhalten? Indem Europa eigene Steuereinnahmen bekommt, beispielsweise durch die neue Finanztransaktionssteuer. Über diese europäischen Mittel muss dann selbstverständlich der europäische Souverän entscheiden, die Volksvertretung in Brüssel.
Koch: Wie wollen Sie davon den Rat der Regierungen und die nationalen Parlamente überzeugen?
Verhofstadt: Einen Teil dieser Überzeugungsarbeit leisten die Finanzmärkte. Ihr Druck auf den Euro führt dazu, dass wir jetzt bald eine europäische Bankenregulierung bekommen, die die Regierungen vor wenigen Jahren noch rundheraus ablehnten. In einigen Punkten, die die Banken betreffen, hat das Parlament bereits Mitbestimmungsrechte. Diese können wir als Hebel benutzen, um in weiteren Bereichen mehr Kontrollbefugnisse zu erkämpfen.
Koch: Taugen die Vereinigten Staaten von Amerika als Vorbild für die Entwicklung eines föderativen Europa?
Verhofstadt: Die unabhängigen Staaten, die die USA gründeten, haben sich zunächst eine politische Struktur gegeben – beispielsweise ein gemeinsames Finanzministerium. Dann erst kam die gemeinsame Währung, der Dollar. Wir in Europa haben den Euro als gemeinsame Währung erfunden. Dann fiel uns auf, dass wir keine übereinstimmende Finanzpolitik haben. Jetzt müssen wir einiges nachholen. Denn eine Währung ohne Staat funktioniert nicht.
Bio-Kasten
Guy Verhofstadt (Jg. 1953) war von 1999 bis 2008 Premierminister Belgiens. Im Europa-Parlament leitet er gegenwärtig die liberale Fraktion. Zusammen mit dem Grünen Daniel Cohn-Bendit hat er unlängst das Manifest „Für Europa!“ veröffentlicht (Carl Hanser Verlag).