Der Kampf um die europäische Demokratie
Warum das Europaparlament mehr Kompetenzen braucht, und wie es sie bekommt
12. Dez. 2012 –
Am Schuman-Platz in Europas Hauptstadt Brüssel rattern die Presslufthämmer und drehen sich die Baukräne. Dem Europäischen Rat wird ein neuer Sitz gebaut. Angela Merkel, Francois Hollande und ihre 25 Regierungschef-Kollegen sollen es praktisch, bequem und repräsentativ haben, wenn sie über die Zukunft der 500 Millionen Europa-Bürger entscheiden.
Man kann den Neubau als Sinnbild für den augenblicklichen Entwicklungsstand der Europäischen Union betrachten. Von der Krise der vergangenen Jahre hat am meisten der Rat der Regierungen profitiert. In der Not verschaffte er sich ständig neue Machtbefugnisse. Im Vergleich zu den anderen Säulen der EU wurde die Rolle des Rates deutlich aufgewertet. Besonders das Parlament, für die demokratische Legitimation der Brüsseler Politik zuständig, ist zurückgefallen.
„Wir beklagen einen exekutiven Überhang“, sagt Udo Bullmann, der Vorsitzende der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten im EU-Parlament. Beispiel European Stability Mechanism (ESM): Das Pendant zum Internationalen Währungsfonds wurde von den im Rat vertretenen Regierungen mittels eines zwischenstaatlichen Vertrages gegründet. Parlamentarische Mitwirkung oder Kontrolle durch die europäische Volksvertretung: null.
Ähnlich, so befürchten viele Abgeordnete, könnte es an einem anderen Punkt laufen. Merkel, Hollande & Co. haben vereinbart, dass die Kommission die Haushalte der Einzelstaaten zurückweisen soll, wenn sie den Kriterien einer soliden Finanzpolitik widersprechen. Bislang ist auch hier eine Mitwirkung des europäischen Souveräns nicht vorgesehen. Die allerdings wollen sich Parlamentarier Udo Bullmann und seine Kollegen nun erkämpfen. „Das Parlament versucht, mehr Einfluss zu gewinnen. Europa ist im Fluss“, sagt Bullmann.
Den Konflikt mag man als Nebensächlichkeit betrachten angesichts der gefährlichen Verschuldungskrise. Doch es geht um die Grundlagen der europäischen Einigung. Fühlen sich die Bürger mit ihren Interessen durch die Institutionen noch angemessen vertreten? In vielen Fällen muss die Antwort heute „Nein“ lauten. Die Demonstranten in Athen, Madrid und Lissabon beschweren sich, dass Brüssel ihnen eine unsoziale und brutale Sparpolitik aufoktroyiere. Viele Menschen in Deutschland, den Niederlanden, Österreich oder Finnland glauben dagegen, dass die Südeuropäer noch viel zu wenig sparen. Gemeinsam hegen die Bürger ein zunehmendes Misstrauen gegenüber den Brüsseler Beschlüssen.
Ohne das Vertrauen seiner Einwohner aber kann der föderative Verbund Europa nicht bestehen. Ob Demokratie glaubhaft stattfindet, ist deshalb essentiell für die gemeinsame politische Zukunft des Kontinents. Dabei hat die Krise gezeigt, dass die bisherigen, nationalen Legitimationsmechanismen nicht mehr ausreichen. „Stellen Sie sich vor, die Parlamente und Regierungen der 50 Mitgliedsstaaten der USA würden jedes Mal mitentscheiden, wenn die Regierung in Washington einen Beschluss fassen will“, sagt Guy Verhofstadt, der Chef der Liberalen im EP. „Das würde nicht funktionieren.“ Dieses Verfahren wäre viel zu kompliziert, langwierig und verdammte die Zentralregierung häufig zu Untätigkeit.
Eine praktikable und wirksame demokratische Kontrolle neuer EU-Institutionen wie des ESM kann daher nur auf europäischer Ebene stattfinden – durch die direkt gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Das Verfahren dafür ist im Prinzip vorhanden - in der Fachsprache der EU heißt es „Gemeinschaftsmethode“. Das bedeutet: Wenn beispielsweise der EU-Haushalt aufgestellt wird, hat das Parlament volle Mitwirkungsrechte. Ohne die Abgeordneten in Brüssel läuft dann nichts. In der aktuellen Auseinandersetzung geht es nun darum, dieses demokratische Verfahren auszudehnen - auf neue Institutionen wie den ESM oder auch die Eingriffsrechte der Kommission gegenüber den Mitgliedsstaaten. Die Bürger in den 27 EU-Staaten müssen glauben können, dass die gewählten EU-Abgeordneten in allen Fragen tatsächlich ihre Interessen vertreten.
Bei der nächsten Wahl des EU-Parlamentes 2014 sollen deshalb erstmals Spitzenkandidaten die europaweiten Listen anführen – beispielsweise der gegenwärtige Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, die Liste der Sozialdemokratischen Parteien, oder der polnische Ministerpräsident Donald Tusk die der mitte-rechts orientierten Europäischen Volkspartei. Damit verbunden ist der Anspruch der Parlamentarier, dass der siegreiche Spitzenkandidat als neuer Präsident der EU-Kommission europäischer Regierungschef werden soll.
Gelänge dies, wäre das ein Novum, das in den EU-Verträgen nicht kodifiziert, aber auch nicht ausgeschlossen ist. Bisher haben die im Rat vertretenen Regierungen die Person des Kommissionspräsidenten ausgesucht und dem Parlament zur Bestätigung vorgeschlagen. Dass die Parlamentarier nun versuchen, den Spieß umzudrehen, ist „ein Kräftemessen mit dem Rat“, sagt Bullmann. Der Kampf um die europäische Demokratie ist in vollem Gange.