Der Kern der Gesellschaft schrumpft

Die Mittelschicht nimmt ab. Das zeigt eine neue Studie der Uni Bremen.

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Von Hannes Koch

13. Dez. 2012 –

Der Kern der sozialen und politischen Identität der Deutschen steckt in einem Begriff: Mittelschicht. Diese Gruppe bildet gleichermaßen die Basis und Mehrheit der Gesellschaft. Ihr möchte man angehören, sie fungiert als sozialer Sehnsuchtsort jenseits materieller Not. Und doch bekommt dieses Fundament zunehmend Risse.


Diese Botschaft sendet eine Studie der Universität Bremen im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, die überzogener Sozialkritik gänzlich unverdächtig ist. Demnach schrumpft die Mittelschicht in Deutschland. Während ihr 1997 rund 65 Prozent der Bevölkerung angehörten, ging der Anteil bis 2010 auf 58,5 Prozent zurück. In jenem Jahr umfasste der Kern der bundesrepublikanischen Gesellschaft etwa 5,5 Millionen Menschen weniger als 13 Jahre zuvor.


Dieser Aderlass steht für einen Trend, den zuvor schon andere Studien aufdeckten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) beschreibt diese Entwicklung seit Jahren. In dem im vergangenen September veröffentlichten Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung war sie ebenso verzeichnet. Nicht alle Wissenschaftler allerdings teilen die These von der schrumpfenden Mittelschicht. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichte vor wenigen Tagen ein Gutachten mit der Aussage: „Die mittlere Einkommensschicht in Deutschland zeigt sich ingesamt stabil.“


Die Zahlen, auf denen die Bremer Studie beruht, stammen aus dem Sozioökonomischen Panel des DIW, für das jährlich 20.000 Erwachsene befragt werden. Als Angehöriger der Mittelschicht wird definiert, wer zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung netto zur Verfügung hat. Für Einpersonenhaushalte bewegt sich diese Spanne zwischen 1.130 und 2.420 Euro monatlich, für Vierpersonenhaushalte mit zwei minderjährigen Kindern zwischen 2.370 und 5.080 Euro.


Während die Bevölkerungsschichten mit solchen mittleren Einkommen abnehmen, dehnen sich die Ränder bei der Einkommens- und Vermögensverteilung aus. Mehr Menschen als früher sind arm und mehr reich. Das Schrumpfen des Mittelschicht sei dabei aber nicht nur eine „Verlustgeschichte“ schreibt Olaf Groh-Samberg von der Uni Bremen. Zahlreichen Angehörigen der Mittelschicht gelinge auch der Aufstieg zu Reichtum.


Eine Ursache des Drucks auf die Mittelschicht ist die demografische Entwicklung: Mehr Menschen leben alleine, wodurch ihnen die finanziellen Vorteile größerer Haushalte fehlen. Andererseits spielen die Arbeitsmarktreformen (unter anderem Hartz IV) und die Lohnmoderation der Wirtschaft während der vergangenen Dekade eine Rolle: Die Arbeitseinkommen stagnierten, während die Preise durch Inflation stiegen. Hinzu kam eine Steuer- und Abgabenpolitik, die die obersten Einkommensgruppen begünstigte.


Diese Tatsachen bestreiten auch Wissenschaftler konservativer Provenienz nicht. Allerdings relativieren sie die Ergebnisse. In seiner neuen Studie „Zwischen Stabilität und Fragilität“ für die Konrad-Adenauer-Stiftung legt Christian Arndt beispielsweise einen längeren Beobachtungszeitraum (1993 bis 2009) zugrunde. Dabei fällt die Differenz zwischen Anfangs- und Endpunkt geringer aus. Ergebnis: Die Mittelschicht schrumpft ebenfalls, aber nicht so stark.

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