Der Kitt der Gesellschaft
Serie "Familie und Wirtschaft" Teil 6
20. Dez. 2012 –
Immer weniger Paare gehen den Bund des Lebens ein. Immer seltener bekommen Familien Nachwuchs. Haben wir den Sinn für Familie verloren? Nein, sagen Wissenschaftler. Wir haben nur begonnen, sie neu zu definieren
„Ich habe zwei Mamas und zwei Papas, eine Menge Brüder und Schwestern, aber keiner von ihnen ist es eigentlich wirklich. Sie sind alle Halb-Irgendwas und Stief-Irgendwas und ein bisschen dies und ein bisschen das. Und ich liebe sie. (...) Jeder, den man zur Familie zählt, ist Familie. Auch Freunde können Familie sein.“ Mit diesen Worten brachte vor einiger Zeit eine 13-Jährige Schülerin aus dem Norden Londons in der Zeitung Independent zum Ausdruck, was für sie Familie bedeutet – nämlich genau das, was Wissenschaftler heutzutage propagieren.
„Auch Freunde können Familie sein“, meint der Zukunftsforscher Horst Opaschowsky dazu. Die Familie beziehungsweise die Zweigenerationenfamilie habe mit dem demografischen Wandel aufhört, Idealtypus der Gesellschaft zu sein. Der Trend gehe zur Mehrgenerationenfamilie, die aber nicht immer und nicht zwangsläufig unter einem Dach leben müsse. Und, so der Forscher: Wer familien-, kinder- und enkellos lebt, ist mit zunehmenden Alter darauf angewiesen, Freunde als Wahlfamilie zu gewinnen.
Dieses neue Verständnis von Familie, beobachtet Opaschowsky, ist in der westlichen Welt längst Wirklichkeit geworden. Auch mit Zahlen untermauert der Wissenschaftler seine These: „Mehr als die Hälfte, 55 Prozent der Deutschen, halten es erforderlich, ,sich frühzeitig um nichtverwandte Wahlfamilien zu kümmern’, zitiert er aus einer Studie der Stiftung für Zukunftsfragen, die er jahrelang leitete.
Nicht nur bei Opaschowsky erfährt die Familie eine Neudefinition. „Wir befinden uns inmitten einer sozialen Experimentierphase“, sagt beispielsweise der Philosoph Richard David Precht, Er glaubt, dass die Zukunft in Großfamilien liegen wird. Schließlich sei der Zusammenhalt von Clans ein „artspezifisches Verhalten“. Über Jahrhunderte lebten die Menschen so zusammen, argumentiert er. Zu einem solchen Familienverband gehörten ein Großteil der Verwandtschaft, unverheiratete Geschwister, Cousinen, Ammen, Hauspersonal, Gesinde. Die neue Großfamilie könnte eine modifizierte Wiederaufnahme dieser Struktur sein, indem sie Ex-Partner und Freunde einschließt.
Die Gesellschaft profitiert von Familienmodellen, in denen man sich stärker um seine Angehörige kümmert, meint Precht. Schon allein deshalb, weil aufgrund der Überalterung der Bevölkerung ein Kollaps unserer Sozialsysteme droht und der Staat es sich immer weniger leisten kann, die Versorgung der Alten zu finanzieren.
Die Wirtschaft, so Precht, muss sich auf diese Veränderungen einstellen. Er sagt: Heute arbeiten die Menschen am meisten an ihrer Karriere in dem Alter, in dem sie Kinder bekommen und aufziehen. Als Folge davon können sie sich nicht um den Nachwuchs kümmern, sind allzeit überfordert und leiden im äußersten Fall am Ende sogar an einem Burnout. Es müsste also Möglichkeiten geben, gerade in dieser Lebensphase weniger zu arbeiten.
Das Bedürfnis nach mehr Zeit für Familie und ein gutes Leben passt zwar nicht ins Konzept vieler Unternehmen. Doch sie müssen sich wohl teilweise anpassen, wenn sie den Wettbewerb um die besten Leute nicht ausscheiden wollen. „Viele potenzielle Kandidaten winken ab, wenn sie viel unterwegs sein sollen oder überlange Arbeitszeiten haben“, klagt ein Personalberater. So schafft der Bedarf am Ende vielleicht auch ein neue Realität.